Phill, wie er, die beigefarbene Mütze tief ins Gesicht gezogen, an unserem Wagen vorbeiging, die Hände rechts und links in Jackentaschen vergraben, sich den Dom, die Häuser, den kleinen Platz besah, wohl wissend, daß wir nur Meter entfernt hinter der Windschutzscheibe saßen und ihm winkten. Phill, wie er, ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf den Lippen, den Blick überall hinschweifen ließ, nur nicht in unsere Richtung. Er schien auf Wortsuche zu sein in der Stadt. Also fuhren wir fort, ohne zu hupen oder zu rufen. Heute mittag stand er schließlich unter den winterwelken Rosen im Tor, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Er brachte eine Flasche Wein, ein weites Lächeln und Stadtwortfunde aus spätem Mittelalter. Drei Tage blieb er, dann zog es ihn zurück in seine Dörfer. Zu viel Stadt, sagte er zum Abschied, macht wortkarg.
12.11.2007 17:04:56
an den wänden
es war nacht als der blätterfisch durch meine wohnung schwamm. es war nacht, also dunkel, und wir wußten beide nicht recht, was tun. ein paar goldfarbene blasen schwebten um uns her, sonst geschah lange nichts. dann entblätterte er sich. ich richtete den blick zu boden, sah in die ecke hinter dem kleinen holztisch und wartete. noch nie hatte sich ein blätterfisch vor mir entblättert. abgesehen davon, daß ich unsicher war, was erwartete er wohl von mir?, war ich mir auch nicht darüber im klaren, was dieses sein entblättern in mir ausrichten würde. mit anderen worten: ich war verschämt und vorsichtig. die entblätterung nahm einige zeit in anspruch. dann schwamm er fort. ich hängte seine blätter an meine wände. sie schimmern. immer noch ist nacht, also dunkel. ich übe wändelesen.
29.10.2007 14:07:30
Walherzspaziergang
An diesem Tag spazierten die Kühe in einer langen, unordentlichen Reihe über das Walherz. Sie sangen Muh und Muuuh und Muhuhuuuu. An diesem Tag verwandelten sich alle weißen Flecken auf allen scheckigen Kühen auf dem Walherz in lila-grün gestreifte Luftballons und stieben in die Höhe. An diesem Tag geschah weiter nicht viel, außer: ein Platzregen, ein Sönnchen und dieses hubschraubrige Sirren der Libellen. Und natürlich die Kühe, exakt vierzig, in einer langen, unordentlichen Reihe, die Muh sangen und Muuuh und Muhuhuuuu und dabei gemächlich beschaulich übers Walherz spazierten. Und alle vierzig liebten sie seit diesem Tag heiße Schokolade mit Rum.
verstehen, daß etwas nicht verstanden wurde, daß, was nicht verstanden wurde, verstanden werden will. verstehen, daß verstehen eine form von gespräch ist. verstehen, daß gesprächsformen sich nicht von selbst verstehen, daß sie verstanden sein wollen. verstehen, was ein buch ist. was eine fliege ist. was ich ist, was du. alles eine frage von verbundenheiten.
20.09.2007 19:13:29
Addition
Buch plus Insekt ist gleich Lesewirtschaft.
20.09.2007 16:07:04
umkehrfrage
verliert sich vor der mauer am ende der straße, bleibt stehn, sieht sich um. schaut zurück, denkt an umkehr, schüttelt den kopf, geht ein paar schritte rückwärts und nimmt anlauf. springt, reißt sich die fingerkuppen auf an groben ziegeln, nimmt anlauf, noch einmal, springt wieder und wieder. sitzt schließlich rittlings auf der mauer. sich am ende der straße vor der mauer verlieren gehört dazu. fingerkuppenaufreißen gehört dazu. anlaufnehmen und aufdermauersitzen gehören auch dazu. alles eine frage der wahl.
19.09.2007 14:15:02
endlich
töne. lauter als laut.
licht. grell auf dunkel.
überall haut.
rauchsäulen und
salz in der luft.
innenraumsprengung, endlich.
11.09.2007 19:52:03
...und die Bärte nicht vergessen
Alle, die Weiber und Branntwein lieben,
müssen Männer mit Bärten sein,
Alle, die Weiber und Branntwein lieben,
müssen Männer mit Bärten sein....
Jan und Hein und Claas und Pit,
die haben Bärte, die haben Bärte,
Jan und Hein und Claas und Pit,
die haben Bärte, die fahren mit.
09.08.2007 20:42:03
Gefunden
Einen ganzen Tag lang Wolken aufgelöst.
Die Nacht durchgeschlafen: tief und fest.
Einen ganzen Tag lang altes Gold gezählt.
Die Nacht durchgeschlafen: tief und fest.
Einen ganzen Tag lang Sandburgen gebaut.
Die Nacht durchgeschlafen: tief und fest.
Drei Minuten deine Stimme.
Drei Minuten deine Augen.
Drei Minuten deine Hände.
Die Nacht in einer aufgelösten Wolke verbracht,
dabei gestrahlt wie altes Gold.
Tagsdrauf eine meergespülte Sandburg gefunden.
Auf der Veranda: ich schwör's!
01.08.2007 20:05:22
und ist es nicht so, daß langsame tage die sind, mitunter, die schließlich antworten bringen. und ist es nicht so, daß an langsamen tagen gereifte antworten die sind, die am längsten gültigkeit behalten, eine unter vielen möglichen: gültigkeiten, manchmal, meistens. und warum sind langsame tage so schwer zu durchleben, häufig. und wie kommt es, daß an langsamen tagen gewachsene antworten so federleicht durchs fenster schweben: und fast immer auf einem sonnenstrahl.
25.07.2007 18:38:41
lehnen
und sind sommerwärts gezogen, die schwäne, die grauen, und haben mich und den doppelgänger zurückgelassen in meinem bett aus glas, und sind verschwunden vom himmel jetzt, und die bienen summen verrücktes im mirabellenbaum, unter dem mutters stimme das morgengebet singt. als ich mich umsehe, verwandelt sich der schnee in reines leuchten und die welt besteht aus licht und sie besteht aus dem wissen der herzen und aus leitern, die an sechs meter hohe mauern gelehnt sind. der doppelgänger erwacht aus seinem traum. ich bin wieder ich. der sommer ist zurück, mit schneekronen auf dem klee. die mauer steht noch. die leiter auch.
01.06.2007 15:24:27
gnadenlos
blüht klatschmohn: rot, üppig, im gang der dinge. schon welken die wörter, wird der himmel klebrig zwischen stift und papier. verbrauchtes auf den kompost tragen, gnadenlos. dann klatscht vielleicht eines tages rotes blühen auf den feldern.
17.05.2007 11:34:04
wofür er sich schämt
den einen und den anderen hunger: es gibt sie beide. der eine ist ihm ins gesicht geschrieben. sein gesicht, seine brust, seine hände. sie knurren vor hunger. daß er eher klein ist, bemerke ich kaum. auch nicht die farbe seiner haare, den klang seiner stimme. nur sein hungriges gesicht, auf anhieb, fast schmerzlich. wie lange? die frage biegt sich in mir zu einer schleife, endlosschleife. wie lange darbt deine haut schon berührungslos? er beugt ihn in richtung boden, den hunger, schämt sich für ihn: schämt sich. ich soll nicht sehen, daß er braucht, was jeder braucht. wenn er aufsähe. wenn er sich aufrichtete, hungrig bis ins mark. wenn er zu seinen hände stünde, zu seiner brust, seinen schultern, aufrecht, aufrecht. aber er sieht zu boden, biegt wofür er sich schämt blickfest auf den asphalt. und meine zeit hier ist abgelaufen.
16.05.2007 15:57:12
versuchsanordnung, merkblattnotiert
auch einmal nicht ganz spurlos verschwinden: zum beispiel in atemgeräuschen.
08.05.2007 22:32:25
Guten Tag
... liebe Sylvia und guten Tag ihr alle! Freue mich sehr, mitschwimmen zu dürfen in diesem sehr besonderen, fein gewebten Wörterraum. Tausend Dank an Christine und Andreas für die schöne, schöne Einladung!! Sudabeh
02.05.2007 17:11:21
Kilometer zwei.sieben.acht.sechs
Bei Kilometer zwei.sieben.acht.sechs: aus, vorbei, danach. Das ist ungünstig, nämlich: zurück nach Le Havre ist es jetzt ebenso weit, wie voran nach New York. Außerdem plagt mich der Hunger. Es ist eine Tatsache, daß ich bei Kilometer zwei.sieben.acht.sechs darüber nachdenke, wie es möglich ist, daß Hunger Fußschmerzen überstrahlt. Versuche angestrengt, nicht nach unten zu sehen, dorthin, wo meine Füße, nämlich: sie sind in leuchtender Tiefe. Als trüge ich die schiefgelaufenen Absätze eleganter Großstadtgestalten: unbeirrt Fußschmerzen hinter dem Hunger. Dabei trage ich nichts mehr an den Füßen, und überhaupt werde ich eher getragen, als daß ich noch etwas trüge, nämlich: vom Atlantik. Plötzlich Runzelrosen. Von rechts, ist das Osten, Norden, nach links plötzlich Runzelrosen in Grüppchen an mir vorbei, wie kleine, tote Dinge. Gemächliches Treiben, geruhsames. Kalteangstblüten. Ich denke darüber nach, ob im Atlantik treibende Runzelrosen möglicherweise eßbar, nämlich: mich plagt ein ungekannter Hunger. Kaum sind die Rosen fort, das Krächzen, Krähenkrächzen: die sich an ihrem Behufe freuen, ihrer Aasfressernützlichkeit. Und wünsche mir die Rosen zurück, zum Tausch. Es ist eine Tatsache, daß ich mir bei Kilometer zwei.sieben.acht.sechs die verrunzelten Angstblüten zurückwünsche, weil ich sie den Krähen im Tausch anbieten: Nehmt die Rosen!, und sie ihnen in den Himmel hinaufwerfen, ihnen entgegen. Und sie zögen weiter: rosengestopfte Mägen. Wo Krähen sind, muß Land sein. Aber unmöglich, ich fieberträume. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich alles begrüßen kann, was in diesem Atlantik herumtreibt. Als nächstes: das Ohr. Es treibt knapp unter Atlantikhaut. Es sitzt an einem Kopf. Es tut, was Ohren tun, nämlich: es horcht. Guten Tag, sage ich. Stop, sagt das Ohr. Haben Sie etwas zu essen, frage ich. Mein Name ist Taucher, sagt das Ohr und hebt den Kopf aus dem Wasser an die Luft. Ich trage Korallen durch den Atlantik, sagt es. Es ist eine Tatsache, daß ich bei Kilometer zwei.sieben.acht.sechs darüber nachdenke, ob Korallen eßbar sind. Wenn wir Glück haben, sagt das Ohr zufrieden, nämlich: es klickert dabei auf seiner Tastatur, kommen bald Robben vorbei, Atlantiktaxis, müssen Sie wissen, dann sind wir schneller in Neufundland. Aber... Legt knappest bemessene Pause ein, sieht mich an, blitzäugig: Haben Sie sich überhaupt schon vorgestellt, Sie Flegel!