ein bild

Letzter Teil



IS006


– Brunsmark –


Montenbruck folgte dem Webmuster der Bettwäsche aus Leinen. Das Gesicht auf dem Laken, den Blick in den Karos und Falten. Am Nachmittag hatte sie auf dem Parkplatz gestanden, fragend seinen Namen gerufen, weil sie nicht wusste, hinter welchem Fenster der fünfstöckigen Gefängnisfassade sie ihn vermuten sollte. Karl hielt seine Hand ans vergitterte Fenster. Eine unerträgliche Distanz schon nach wenigen Augenblicken, und sie setzte sich auf die Motorhaube, rauchte, blickte woanders hin. So gelang es.

Sie und Karl wohnten seit kurzem in der Stadt und hatten das Studium begonnen. Sie wohnten zusammen, im Garten tauchten die Lurche im Teich. Auf dem Rasen beugte sie sich über seine Schulter, strich ihm das Haar aus der Stirn. Sagte nichts. Träumte.

Morgens um sieben. Poltern an der Zellentür. Mittags essen. Abends essen. Im Gemeinschaftsraum fernsehen. Zelle. Bald verloren die Tage an Bedeutung. Es blieb das Bettgestell aus Metall, die blaue Schaumstoffmatratze, die Bettwäsche, das Regalbrett, der Tisch mit Metallbeinen und lackierter Pressholzplatte. Waschbecken, Spiegel. Die Schachfiguren auf dem Boden verstreut.

Montenbruck erinnerte sich an ihre Begeisterung, im Weinrausch, in der fremden Wohnung mit ihm und Jepsen die Arie zu hören: Aus Liebe will mein Heiland sterben. Aus Liebe. Zu dritt, glücklich und betrunken.
Der weiße Bordeaux. Leer. Entre-Deux-Mers. Leer. Wodka. Leer.
Sie riefen nie ein Taxi. Sie gingen immer zu dritt auf die Straße, nachts oder am Tag, und winkten eins heran.

Spiegel über Waschbecken. Jurabücher überm Bett, Briefe, Fotos. Die anderen nannten ihn Maradona. Libanesen, Türken, Russen. Zwischen sechs und halb acht fernsehen. Der Chef war Araber und wog hundertzehn Kilo, Muskelshirt. Sit-ups, Hanteln, Reck.

- Maradona! Wie lange?
- Bis Mai.
Sie fragten nie nach Gründen.


Jepsen hatte das Fenster aufgerissen, sie kam durch die Flügeltüren
des Schlafzimmers herein.
- Ich muss morgen um neun fliegen!
- Und ich muss jetzt die Achte Schostakowitsch hören!
Drehte lauter.

Später lagen sie zu viert im Bett und schnarchten. Karl wachte nachts auf, zu wenig Wasser. Jepsen sagte
- Erst Weizen für den Durst, dann den Wein.
Oder war das umgekehrt? An Wasser hatten sie nie gedacht. Im Haus hatte er den Weg vom Badezimmer nicht zurückgefunden. Sie sagte später, sie habe sich in der Nacht mit Jepsens Frau geküsst.

- Maradona! Sag was!
- Wie wär's mit Batman statt Glücksrad?
- Alta. Scheiß Glücksrad.

Montenbruck sah den Campus, sah Katharina, die später Jepsens Frau werden sollte, nass vom Gewitter. In der Pause am Automaten kamen sie auf Bruckner und am nächsten Abend verabredeten sie sich in der Philharmonie. Jepsen hatte die Karten besorgt. Jepsen kannte Katharinas Vater, den Dirigenten. Jepsen kannte Katharinas Bruder, den Dirigenten.

In diesem Sommer endete alles. Sie trennten sich. Sie blieb ein Jahr in Paris. Jepsen heiratete Katharina. Katharina verschwand und Karl sah dann Katharina im Kumpelnest wieder, als sie neben dem Türsteher auftauchte. Katharina im Arm eines Fünfzigjährigen, als Karl seine Schlüssel unterm Tresen suchte.
- Aus mir ist was geworden.

                              *     *     *

Die Drehregler an den Armaturen für Heckscheibenheizung, Scheibenwischer und dergleichen waren beim 911er die gleichen wie beim Käfer. Von der A 24 auf die A 1, und die B 208 über Reinfeld, Meyers Gasthof, und mit Standgas und 60 durch Klempau im sechsten Gang. Küchensee, Farchauer Mühle.
Montenbruck sah nach Jahren wieder rote Kastanienblüten. Beinahe wie Lilien, auch sie mit langen Stempeln, auch sie mit diesem weißen Kranz. Nur klein wie Ranunkeln. Sie rieselten auf die Tischdecke des Gasthofs herab. Ein Rotkehlchen hüpfte auf den Steinplatten umher, ein Dompfaff auf dem Jägerzaun.
- Sie weiß vielleicht nicht, was sie will.
Jepsen bestellte Apfelkuchen.
- Zum ersten Mal lag alles so klar vor Augen. So offensichtlich, alle Möglichkeiten, du weißt schon, aber es kam auch alles wie von selbst.

Jepsen und Montenbruck bogen nach Alt-Horst ab, die einspurige Straße maß die weiten Felder ab und zog sich in kilometerlangen geraden Strecken in rechten Winkeln durch das frische Grün des Weizens. Seitlich endeten die Felder erst hinter dem Horizont, keine Rehe, keine Keiler. Nur ein Bussard flog tief an der Straße entlang und suchte nach Feldmäusen. Manchmal ging Jepsen kurz auf 170. Durch Neu-Horst dann wieder im Standgas.

Zur Grundschule wurde Karl morgens im orangefarbenen VW-Bus eingesammelt, dann ging’s durch Brunsmark nach Neu-Horst. Karls Lieblingsweg nach Brunsmark führte mit dem Rad an Maisfeldern vorbei, an der Tannenschonung, durch den Wald, und am Spielplatz kam er dann an.

Sie stellten das Auto ab und spazierten den Abhang über die Eichenwurzeln zum Krebssee hinab. Eine Buche war ins Wasser gestürzt. Mit maigrünen Blättern und der ganzen erdverklumpten Wurzel. Die schweren Äste auf der Wasserseite waren gebrochen, doch sonst schien die schwere Buche auch auf dem Wasser noch eine Weile überleben zu können. Vielleicht lag sie seit Wochen drin.

Den Abhang zum Krebssee hinabgehen. Später zur Oelmannsallee zurückkehren, mit Blick auf den Domsee und zwischen Gründerzeitvillen mit Standgas. Karl wusste, der Gartenschlauch in der Garage reicht bis zur Kirsche, die am Abhang steht zum Forellenbach. Karl zeigte Jepsen das Fenster mit dem Lampenschirm, das Sommerferienzimmer. Die Hexenmarionette in der Diele, die von der Versicherung ersetzte Verandalaterne. Grazia Patrizia, der Mäuseschreck. Das Kinderfest am Apfelbaum.

- Karl, eigentlich solltest du dieses Auto fahren.
Am Sandberg hielt Jepsen an.
- Bleib' mal hier stehen und warte fünf Minuten.
Das Ticken des Boxermotors. Karl ließ das Fenster herunter und wendete. Vierter, Fünfter, untertourig nach Alt-Horst zurück mit offenem Fenster. Auf dem Deutz-Hof die Kehre, er blieb bei zwanzig und beschleunigte hinter dem Feuerwehrteich. Nach der letzten Kurve strahlte die Sonne ins Gesicht. Kein Wild, kein Gegenverkehr auf den nächsten zwei Kilometern, nur Felder und Baumgruppen und die Linden. Weiße Blüten auf dem Asphalt. Sechstausend im Vierten, Fünften, 170 ... 190 ... 230. Brunsmark.
Jepsen würde es wieder tun.

19.11.2005 18:08:30 

II


IS001


- Asphalt -

Katharina war verschwunden. Die Polizei verhielt sich klug. Ein Anruf genügte, und dreißig Minuten später besprachen sie, was zu tun sei. "Ein Notfall", gab Montenbruck durch, und es wurde vereinbart, gleich drei Tage daraus zu machen. Spätestens am Abend sollte entschieden werden, ob Jepsen aus dem Herbsturlaub zurückberufen werden könne, um ihn zu vertreten.

Noch im Auto leuchtete am Nachmittag die Nachricht auf: "Nimm dir zwei Wochen, wir regeln das hier." Karl Montenbruck hatte nur Geld dabei und das Auto, schaltete hoch und fuhr in den Nebel, direkt nach der Ausfahrt zum Sachsenwald.
Jepsen kam also zurück.

Das Hochhaus am Sportplatz. Toreinfahrt, Tiefgarage, der Empfang blieb kurz und sachlich: "Krüger. Haben Sie ein Hotel? Wir können eins besorgen." Katharina. "Danke, es geht schon, ich muss nur kurz telefonieren." Krüger wies auf den Fahrstuhl, und als sie im zwölften Stockwerk ausstiegen, ging die Sonne unter und der Backstein des Doms leuchtete ihnen rot entgegen. Krüger wies auf den Schreibtisch und hielt Montenbruck den Hörer hin. Innenstadt, bis auf Weiteres.

"Wir wissen nur so viel: Zuletzt gesehen wurde sie am Donnerstag vor vier Wochen. Wir wissen, dass sie keine Feinde hatte. Kein Schutzgeld, kein Motiv, kein Abschiedsbrief."
"Das Unternehmen?"
"Hat die Familie. Kennen Sie die Familie?"
"Nur flüchtig", sagte Montenbruck.
"Jedenfalls werden wir anfangen müssen zu arbeiten. Haben Sie eine Vorstellung davon, wo sie jetzt sein könnte?"

Wieso ausgerechnet Möwen? Der Blick aus dem Fenster half, doch Karl wusste, zum Meer ist es noch weit. Die Stadt war schön im Herbst, sie war immer schön gewesen, selbst nach dem Krieg. Unbeschreiblich die Erhabenheit der zerstörten Marienkirche und die Leere, um die sich die grauen Wälle der Ruine legten.

Krüger gab ein Zeichen und Kaffee wurde gebracht. Jetzt waren sie allein.
"Wieviel Zeit haben Sie?", fragte Karl.
"Drei Tage."
"Ich weiß es nicht." Doch wie von selbst sagte er: "Aber ich glaube, ich kann helfen."

                              *     *     *

Am Mühlenteich hatte Karl noch nie gewohnt. Den Dom im Rücken stand er auf der Terrasse und folgte dem Treiben auf der Straße. Ein Haubentaucher, Laub auf den Autos, ein Kind spielte allein im Park, das Rad lag auf dem Rasen. Oberschule zum Dom, dachte Karl. Buniamshof. Senatsstaffeln. Sport. Basketball und Schwimmen. Schmiedestraße. Katharina.
Vier Wochen ist es her, da waren wir noch hier. Jepsen rief an und sagte noch: "Ich hole dich ab." Jepsen. Vom Bahnhof abgeholt hat er mich.

Im Sportwagen wollten wir vorfahren, doch stattdessen stellten wir den Wagen auf der nassen Kiesauffahrt ab. Wir spazierten den Mühlentorteller entlang und fanden die anderen im Lokal. Wir blieben zunächst allein und warteten, doch bald löste sich der Druck. Später eröffnete Jepsen den Tanz, ich verschwand in der Menge der anderen. Wir gingen erst zum Sonnenaufgang.

"Bin gerade da. Können wir reden?" Drei Minuten später stand Krüger vor der Tür, Montenbruck bat ihn herein. Natürlich warf Krüger einen Blick aufs Bett, natürlich wollte Krüger sich nichts anmerken lassen, doch natürlich hatte Krüger auch schon alles gesehen. Sie standen am Geländer und blickten auf den Teich.

"Wir haben's nicht leicht", begann Krüger. "Sie waren zehn Jahre nicht mehr in der Stadt. Aber wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können."
"Ich bin da", sagte Montenbruck. Aber das klang nicht echt. "Ich habe ein Auto, ich habe zwei Wochen. Mag sein, dass ich weg muss."
Krüger schrak auf. "Aber zwei Wochen sollten reichen", sagte Karl.

                              *     *     *

Was für eine Verzweiflung ist das? Die Morgensonne auf dem nassen Asphalt.
Halb acht bei den Eltern. Nichts. Frühstück. Um zehn bei der Schwester.
Aber eigentlich weiß ich schon alles, ist nur so ein Gefühl.

Montenbruck parkte das Auto am Dorfteich und stieg aus, als die Nachricht kam.
Mist, Jepsen. "Was gibt's?"
"Du hast die zwei Wochen."
"Alles klar." Dieses Dorf ist so alt.
"Karl?" Keiner auf der Straße.
"Bist du noch dran?" Die Stadt so fahl.
"Alter?" Vielleicht sogar noch heute.
"Ja! Mann, entschuldige, ich…"
"Alles klar?"
"Alles klar."

So war's doch auch, und dann sage ich irgendwas mit später und Jepsen legt auf.
Zwei Kilometer von der Tankstelle aus, die gehe ich. Hab nichts dabei. Straße. Schilder. Nebel. Asphalt. Kommt ein Auto, leuchtet lauter. Fährt an dir vorbei, verschwindet. Kommt ein Auto, du siehst es, fährt an dir vorbei. Graues Licht, braunes Feld. Auto. Gelbes Schild. Kalt. Die Auffahrt noch wie früher. Betonziegel auf dem Boden, braune Mauern. Nicht nachdenken, klingeln. Nichts. Klingeln.

"Wir haben sie gefunden", sagte Karl zu sich selbst und folgte ihr im Treppenhaus. "Katatonischer Zustand", hatte die Ärztin noch eben gesagt, aber Karl musste es sehen. "Sie werden sie nicht verstehen", hatte sie noch gesagt, doch Karl ging einfach weiter. "Wir haben sie behandelt", sagte die Ärztin und Karl blieb stehen.
"Nichts Schlimmes. Drei Wochen." Karl betrachtete die Ärztin, die grauen Adern auf dem Handrücken. "Nichts Schlimmes", sagte die Ärztin erneut und sie gingen den Flur hinab und die Sonne glänzte auf grünem Resopal. Auf grauen Wänden. Der Schritt der Ärztin hallte nach und sie ging vor, öffnete die Tür und blieb stehen.

Karl kommt rein und nimmt mich in den Arm. Ist da, jetzt. Karl weint und ich bin da. Karl schließt die Tür und nimmt mich in die Hände und sein Blick und mein Blick und der Atem und alles ist wieder da. "Ich schaff's", sage ich noch und Karl sagt nichts. Er nimmt meine Haare und ich neige meinen Kopf. Das Licht ist weich, das Fenster offen. Es ist kalt. Schön kalt.

Karl steht auf. "Zwei Minuten!" Alte Angewohnheit. "Ja!" Katharina ist da. Karl hebt die Arme: "Zwei Minuten! Ja? Nicht länger!"
"Ja."
In diesen zwei Minuten geht Karl nach draußen und schließt die Tür. Mit einer Handbewegung treibt er die Ärztin vor sich her und sie hetzen leise dem Ende des Ganges entgegen. Bevor sie etwas fragen kann sagt Karl, es gehe ihr gut. Bevor sie etwas sagen kann gibt Karl ihr Krügers Karte und sagt Jepsen sei der Anwalt.
"Die Staatsanwaltschaft weiß Bescheid", sagt Karl und er sagt: "Wenn das jetzt dauern soll,…"
Doch die Ärztin unterbricht: "Ist in Ordnung."
"Dann rufen Sie uns ein Taxi."

Ich will zur Tür doch sie steht schon da. Wir nicken uns zu und ich gehe an ihr vorbei und ich fürchte um sie und habe Angst um das Tempo doch Katharina folgt. "Ich will alles wissen", sage ich, "aber jetzt können wir los. Können wir? Zwanzig Minuten?"
"Ja."

Das Taxi setzt uns an der Tankstelle ab, die nassen Haare vor ihrem dunklen Blick gefallen mir. Sie lacht nicht, noch nicht, und ich gehe zum Auto und hole die Jacke, nehme das Geld raus für den Fahrer und Katharina dreht sich vor mich und ich lege ihr die schwere Jacke um die Schultern. Sie wartet nicht, bis ich die Tür öffne.
Hat sie nie gemacht.

(02.11.2005)

04.11.2005 11:31:09 

II


IS001


- Asphalt -

Katharina war verschwunden. Die Polizei verhielt sich klug. Ein Anruf genügte, und dreißig Minuten später besprachen sie, was zu tun sei. "Ein Notfall", gab Montenbruck durch, und es wurde vereinbart, gleich drei Tage daraus zu machen. Spätestens am Abend sollte entschieden werden, ob Jepsen aus dem Herbsturlaub zurückberufen werden könne, um ihn zu vertreten.

Noch im Auto leuchtete am Nachmittag die Nachricht auf: "Nimm dir zwei Wochen, wir regeln das hier." Karl Montenbruck hatte nur Geld dabei und das Auto, schaltete hoch und fuhr in den Nebel, direkt nach der Ausfahrt zum Sachsenwald.
Jepsen kam also zurück.

Das Hochhaus am Sportplatz. Toreinfahrt, Tiefgarage, der Empfang blieb kurz und sachlich: "Krüger. Haben Sie ein Hotel? Wir können eins besorgen." Katharina. "Danke, es geht schon, ich muss nur kurz telefonieren." Krüger wies auf den Fahrstuhl, und als sie im zwölften Stockwerk ausstiegen, ging die Sonne unter und der Backstein des Doms leuchtete ihnen rot entgegen. Krüger wies auf den Schreibtisch und hielt Montenbruck den Hörer hin. Innenstadt, bis auf Weiteres.

"Wir wissen nur so viel: Zuletzt gesehen wurde sie am Donnerstag vor vier Wochen. Wir wissen, dass sie keine Feinde hatte. Kein Schutzgeld, kein Motiv, kein Abschiedsbrief."
"Das Unternehmen?"
"Hat die Familie. Kennen Sie die Familie?"
"Nur flüchtig", sagte Montenbruck.
"Jedenfalls werden wir anfangen müssen zu arbeiten. Haben Sie eine Vorstellung davon, wo sie jetzt sein könnte?"

Wieso ausgerechnet Möwen? Der Blick aus dem Fenster half, doch Karl wusste, zum Meer ist es noch weit. Die Stadt war schön im Herbst, sie war immer schön gewesen, selbst nach dem Krieg. Unbeschreiblich die Erhabenheit der zerstörten Marienkirche und die Leere, um die sich die grauen Wälle der Ruine legten.

Krüger gab ein Zeichen und Kaffee wurde gebracht. Jetzt waren sie allein.
"Wieviel Zeit haben Sie?", fragte Karl.
"Drei Tage."
"Ich weiß es nicht." Doch wie von selbst sagte er: "Aber ich glaube, ich kann helfen."

                              *     *     *

Am Mühlenteich hatte Karl noch nie gewohnt. Den Dom im Rücken stand er auf der Terrasse und folgte dem Treiben auf der Straße. Ein Haubentaucher, Laub auf den Autos, ein Kind spielte allein im Park, das Rad lag auf dem Rasen. Oberschule zum Dom, dachte Karl. Buniamshof. Senatsstaffeln. Sport. Basketball und Schwimmen. Schmiedestraße. Katharina.
Vier Wochen ist es her, da waren wir noch hier. Jepsen rief an und sagte noch: "Ich hole dich ab." Jepsen. Vom Bahnhof abgeholt hat er mich.

Im Sportwagen wollten wir vorfahren, doch stattdessen stellten wir den Wagen auf der nassen Kiesauffahrt ab. Wir spazierten den Mühlentorteller entlang und fanden die anderen im Lokal. Wir blieben zunächst allein und warteten, doch bald löste sich der Druck. Später eröffnete Jepsen den Tanz, ich verschwand in der Menge der anderen. Wir gingen erst zum Sonnenaufgang.

"Bin gerade da. Können wir reden?" Drei Minuten später stand Krüger vor der Tür, Montenbruck bat ihn herein. Natürlich warf Krüger einen Blick aufs Bett, natürlich wollte Krüger sich nichts anmerken lassen, doch natürlich hatte Krüger auch schon alles gesehen. Sie standen am Geländer und blickten auf den Teich.

"Wir haben's nicht leicht", begann Krüger. "Sie waren zehn Jahre nicht mehr in der Stadt. Aber wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können."
"Ich bin da", sagte Montenbruck. Aber das klang nicht echt. "Ich habe ein Auto, ich habe zwei Wochen. Mag sein, dass ich weg muss."
Krüger schrak auf. "Aber zwei Wochen sollten reichen", sagte Karl.

                              *     *     *

Was für eine Verzweiflung ist das? Die Morgensonne auf dem nassen Asphalt.
Halb acht bei den Eltern. Nichts. Frühstück. Um zehn bei der Schwester.
Aber eigentlich weiß ich schon alles, ist nur so ein Gefühl.

Montenbruck parkte das Auto am Dorfteich und stieg aus, als die Nachricht kam.
Mist, Jepsen. "Was gibt's?"
"Du hast die zwei Wochen."
"Alles klar." Dieses Dorf ist so alt.
"Karl?" Keiner auf der Straße.
"Bist du noch dran?" Die Stadt so fahl.
"Alter?" Vielleicht sogar noch heute.
"Ja! Mann, entschuldige, ich…"
"Alles klar?"
"Alles klar."

So war's doch auch, und dann sage ich irgendwas mit später und Jepsen legt auf.
Zwei Kilometer von der Tankstelle aus, die gehe ich. Hab nichts dabei. Straße. Schilder. Nebel. Asphalt. Kommt ein Auto, leuchtet lauter. Fährt an dir vorbei, verschwindet. Kommt ein Auto, du siehst es, fährt an dir vorbei. Graues Licht, braunes Feld. Auto. Gelbes Schild. Kalt. Die Auffahrt noch wie früher. Betonziegel auf dem Boden, braune Mauern. Nicht nachdenken, klingeln. Nichts. Klingeln.

"Wir haben sie gefunden", sagte Karl zu sich selbst und folgte ihr im Treppenhaus. "Katatonischer Zustand", hatte die Ärztin noch eben gesagt, aber Karl musste es sehen. "Sie werden sie nicht verstehen", hatte sie noch gesagt, doch Karl ging einfach weiter. "Wir haben sie behandelt", sagte die Ärztin und Karl blieb stehen.
"Nichts Schlimmes. Drei Wochen." Karl betrachtete die Ärztin, die grauen Adern auf dem Handrücken. "Nichts Schlimmes", sagte die Ärztin erneut und sie gingen den Flur hinab und die Sonne glänzte auf grünem Resopal. Auf grauen Wänden. Der Schritt der Ärztin hallte nach und sie ging vor, öffnete die Tür und blieb stehen.

Karl kommt rein und nimmt mich in den Arm. Ist da, jetzt. Karl weint und ich bin da. Karl schließt die Tür und nimmt mich in die Hände und sein Blick und mein Blick und der Atem und alles ist wieder da. "Ich schaff's", sage ich noch und Karl sagt nichts. Er nimmt meine Haare und ich neige meinen Kopf. Das Licht ist weich, das Fenster offen. Es ist kalt. Schön kalt.

Karl steht auf. "Zwei Minuten!" Alte Angewohnheit. "Ja!" Katharina ist da. Karl hebt die Arme: "Zwei Minuten! Ja? Nicht länger!"
"Ja."
In diesen zwei Minuten geht Karl nach draußen und schließt die Tür. Mit einer Handbewegung treibt er die Ärztin vor sich her und sie hetzen leise dem Ende des Ganges entgegen. Bevor sie etwas fragen kann sagt Karl, es gehe ihr gut. Bevor sie etwas sagen kann gibt Karl ihr Krügers Karte und sagt Jepsen sei der Anwalt.
"Die Staatsanwaltschaft weiß Bescheid", sagt Karl und er sagt: "Wenn das jetzt dauern soll,…"
Doch die Ärztin unterbricht: "Ist in Ordnung."
"Dann rufen Sie uns ein Taxi."

Ich will zur Tür doch sie steht schon da. Wir nicken uns zu und ich gehe an ihr vorbei und ich fürchte um sie und habe Angst um das Tempo doch Katharina folgt. "Ich will alles wissen", sage ich, "aber jetzt können wir los. Können wir? Zwanzig Minuten?"
"Ja."

Das Taxi setzt uns an der Tankstelle ab, die nassen Haare vor ihrem dunklen Blick gefallen mir. Sie lacht nicht, noch nicht, und ich gehe zum Auto und hole die Jacke, nehme das Geld raus für den Fahrer und Katharina dreht sich vor mich und ich lege ihr die schwere Jacke um die Schultern. Sie wartet nicht, bis ich die Tür öffne.
Hat sie nie gemacht.

(02.11.2005)

04.11.2005 11:31:09 

counterreferrer