daisy and violet eröffnet von Andreas Louis Seyerlein
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0.28 - Gegen Mitternacht stehe ich im Arbeitszimmer, hebe beide Arme, mache Flügel, weil ich darüber nachdenke, wie es wäre, gewichtlos zu sein. Ich habe mir vorgestellt, dass man vielleicht einmal auf die Idee kommen wird, Menschen zu erfinden, die ohne Knochen sind, weil sie Knochen nicht benötigen, weil sie ohne jede Schwere im Weltraum existieren auf großer Fahrt. Diese Menschen würden von einer kräftigen Haut begrenzt, legten sich vielleicht in wabenförmigen Strukturen zur Ruhe, wären faltbar und weich wie Medusen. Wenn sich zwei Medusenmenschen in einem schwerelosen Raum begegneten, würden sie sich in einer Zartheit umschmeicheln, die uns Knochenmenschen grundsätzlich fremd ist, weil wir in der Begegnung, auch in der Liebe, gewohnt sind auf Widerstände stoßen zu wollen, auf Gegenwehr, auf eine Festigkeit, die wir benötigen, um sagen zu können, das bin ich und das bist Du. Ist das nicht ein bezaubernder Film, wie sich nahe des Siriussternes zwei uralte Medusenwesen durch einen Tango atmen, wie sie verliebt ihre pulsierenden, ihre lichtdurchlässigen Lungen betrachten? Wie könnten diese Wesen bekleideten sein, welche Bücher würden sie lesen, welche Musik würde sie in glückliche Schwingung versetzen, was werden sie essen, was werden sie trinken, was werden sie einmal von mir denken, wenn sie lesen, was ich heute Nacht bereits für sie aufgeschrieben habe?
12.09.2008 21:01:33
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1.28 - Gestern Abend in der Dämmerung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gelesen habe, dass auf dem Postamt ein Paket auf mich wartet. Ich bin also los mit meinem Regenschirm, der sehr schöne Geräusche macht, wenn Wasser aus großer Höhe auf ihn herabfällt, und weil es sehr windig war, musste ich den Schirm etwas schräg vor mich stellen, wie einen Schild vielleicht, deshalb habe ich von den Menschen, die mir begegneten nur Schuhe gesehen oder Beine in Strümpfen oder Hosen oder flatternde Mäntel. Sehr seltsam dieser exquisite Blick auf die Werkzeuge des Gehens, sehr seltsam, wie schnell menschliche Wesen sich doch bewegen. Bald war ich wieder auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuchte Schilde, die sich mir entgegen stemmten, darunter Artgenossen, geräuschlos, den Blick auf meine Schuhe geheftet, wie schnell diese Person doch geht oder fliegt. - stop - Nun zu dem, was ich eigentlich erzählen will. Auf meinem Schreibtisch ruht seit sechs Stunden ein fein gestaltetes Buch von rauem, kräftigem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlantik reiste, weswegen es fünf Wochen unterwegs gewesen war, in einem Container vermutlich bei Wind und Wetter, also rollte und übers Wasser schlingerte, auf und ab getragen von sehr hohen und kleineren Wellen. Ich habe lange auf dieses Buch gewartet, eine sehr lange Zeit. Als ich zu warten begann war noch Sommer gewesen und jetzt ist schon Winter geworden. Nun endlich liegt das kleine Buch, das von den Zwillingen Daisy und Violet Hilton erzählt, auf meinem Schreibtisch oder in meiner Küche oder auf meinem Sofa oder auf meiner Brust, wenn ich trotz Begeisterung kurz einmal eingenickt gewesen bin. Da ist eine Bewegung im Halbschlaf, ein kaum wahrnehmbares Schaukeln. Und zwitschernde Mädchenstimmen. Das Nebelhorn eines Dampfers vor Brighton.