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Donnerflug 8


Peter Alexander friert. Man sollte meinen, in Rom wäre es warm, aber wie er da so nackt auf der Straße steht, die Kameras und das Team vor sich, gleich dahinter den gesperrten Verkehr und die Unmengen gaffender Römer und Römerinnen, die aus ihren Wagen gestiegen sind und sich diesen nackten, blassen Deutschen nicht entgehen lassen wollen, bekommt er plötzlich eine Gänsehaut, wie er sie selbst von seinen Auftritten in ausverkauften Hallen nicht kennt. Vielleicht hätte er diese Rolle doch besser ablehnen sollen? Und lieber den Film mit Romy Schneider machen? Aber sein Agent hat ihm ausdrücklich zu diesem Film geraten, mit Pfleghar musst du drehen, hat er gesagt, das ist der wichtigste Regisseur zur Zeit in Deutschland, alle wollen mit dem was machen, sein letzter Film lief in Cannes bei den Filmfestspielen! Obwohl – wie große Filmkunst wirkt das alles nicht, eher erinnert ihn das an seine Charlies-Tante-Reihe, nur dass er sich diesmal nicht als Frau verkleiden muss, sondern gleich ganz ohne Kostüm auftreten darf. Das spart immerhin Zeit in der Maske, und dafür geht’s später noch nach Japan, weil der Bel Ami 2000, seine Rolle, ja nicht nur der erfolgreichste Frauenheld Deutschlands, sondern der ganzen Welt sein soll. Endlich sind jetzt alle soweit, der erste Take beginnt. Alexander kommt aus einem Häuserflur, hält sich eine Hand vors Geschlecht und sondiert die Lage. Auf der Straße herrscht das übliche römische Treiben, Gehupe übertönt Gefluche oder umgekehrt. Er verzieht das Gesicht, um Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung auszudrücken, aus irgendwelchen Gründen will Pfleghar, dass alle Gefühle durch Mienen wie aus der Stummfilmzeit ausgedrückt werden, was am Ende nichts anderes als ein völlig albernes Grimassieren ergibt, aber er ist nun einmal der Regisseur und wird schon wissen, was er tut. Ein Blick nach links, dann rechts, eine Lücke im Getümmel tut sich auf, ein kurzer Spurt und Alexander hat es bis zur nächsten Häuserecke geschafft. Schnitt. Eine Assistentin bringt ihm den Bademantel, die Herumstehenden applaudieren, Pfleghar ist nicht zufrieden. Sie drehen die Szene insgesamt noch fünfmal, niemand außer Pfleghar weiß so recht, was an den ersten Takes nicht zufriedenstellend war, aber alle spuren sie, alle befolgen sie ohne Murren die Anweisungen dieses meist so charmanten, dann wieder unerklärlich unwirschen Filmgenies aus München.
Am Abend sitzen alle in einer Osteria gegenüber dem Kolosseum, die Gegenstand eines geläufigen Rom-Witzes ist, bei dem jemand nach dem Weg zum Kolosseum fragt und als Antwort bekommt, er könne es gar nicht verfehlen, es läge genau gegenüber eben jener Osteria. Auch Pfleghar gibt dem Witz zum Besten, er weiß genau, dass jeder der Anwesenden ihn seit ihrer Ankunft bestimmt schon zehnmal gehört hat, dreimal allein von ihm, aber es ist ein wichtiger Bestandteil seiner Ästhetik, dass durch Wiederholung einfach alles besser wird. Und er ist gewiss nicht der Mann, der einen Unterschied zwischen Kunst und Leben macht. Also nutzt er selbst diesen schalen Witz noch für einen kleinen Vortrag.
“Was ist ein guter Witz?”, fragt er in die Runde und gibt sich selbst die Antwort: “Ein guter Witz ist ein Witz, den man sich gut behalten kann. Deshalb erzählen die Leute immer wieder die gleichen Witze, und deshalb braucht man im Grunde auch gar keine neuen Witze. Und von den neuen schaffen es auch nur die ins Repertoire, die eingängig sind. Beim Film ist es übrigens genauso: Ein guter Film ist ein Film, an den man sich gut erinnern kann. Deshalb haben wir heute Peter Alexander nackt durch die Straßen gejagt, damit sich die Leute später sagen: ‚Bel Ami 2000, war das nicht dieser Film, wo Peter Alexander nackt durch Rom läuft?‘ Das ist das ganze Geheimnis.”
Er zündet sich eine neue Zigarette an, für einen Moment warten alle darauf, dass vielleicht Alexander Einspruch erhebt, aber der scheint ganz zufrieden bei dem Gedanken daran, dass sich die Leute später vor allem an ihn erinnern sollen. Pfleghar fährt fort:
“Im Leben ist das so, und in der Kunst auch. Und übrigens, Peter, wir müssen die Szene morgen noch mal drehen.”
Ein kollektiver Seufzer erklingt am Tisch.
“Was ist denn jetzt wieder? Es war doch alles in Ordnung!”, beschwert sich Alexander, schon der bloße Gedanke verursacht ihm eine erneute Gänsehaut.
“Dein Ding ist einfach zu groß,” sagt Pfleghar und grinst in die Runde, “ich hab mir vorhin die Muster angeschaut, irgendwo ist immer was zu sehen. Wenn der Film nicht nur im Bahnhofskino laufen soll, hältst du morgen besser beide Hände davor!”
Die Regieassistentin bricht prustend in Lachen aus, bald ist der ganze Tisch ein einziges Gegröle, der Tonmann fasst der Kellnerin als erster an den Hintern.

16.02.2008 13:59:03 

Donnerflug 7


Für acht Mark wird Oliver nicht nur der Einlass ins Madhouse gewährt, er bekommt auch noch einen neongelben Plastikchip in die Hand gedrückt, den er gegen ein Getränk tauschen kann. Im Dunklen leuchten kann er allerdings nicht, wie er beim Durchgang durch die Lärmschleuse enttäuscht feststellen muss.
Und das bleibt nicht die einzige Enttäuschung. Denn der Betreiber dieses Bremer Etablissements, der in der Farbe Schwarz offenbar die Lösung aller ästhetischen Probleme sieht, hat nicht nur die Einrichtung verhunzt. Auch der Sound scheppert so trostlos vor sich hin, dass man den Boxen gerne ein schnelles Ende wünscht. Während sich Oliver einen Weg durch die auch um 22 Uhr schon recht große Menge von Gästen bahnt, spielt der DJ, wenn es denn einen gibt und nicht einfach nur irgendeine Kompilation durchläuft, mit größter Treffsicherheit genau die Titel, die Oliver froh war, erfolgreich vergessen zu haben. Er sucht sich einen etwas freieren Platz in einer Ecke neben der Tanzfläche und holt Sonjas Foto aus der Jackentasche. Wenn er schon hier ist, will er es jedenfalls schnell hinter sich bringen. Er tippt einem schwarzhaarigen Mädchen, das sich vor ihm mit einer Freundin unterhält, auf die Schulter und hält ihr das Foto hin.
“Kennst du die vielleicht?”
Das Mädchen wirft einen flüchtigen Blick auf Sonja und schüttelt den Kopf. Auch ihre Freundin zuckt nur mit den Schultern und dreht sich gleich wieder weg. Wahrscheinlich, denkt sich Oliver, halten sie das eh‘ nur für eine selten blöde Anmache. Er arbeitet sich dennoch durch den Laden vor, die Mädchen reagieren meist ähnlich, einige der Jungs betrachten sich das Foto von Sonja genauer, kommen aber in der Regel zu dem Schluss, dass sie nicht ihr Typ ist.
An der Bar holt Oliver sich ein Bier, er setzt sich mit dem Rücken zur Theke auf einen der Hocker und lässt seinen Blick noch einmal über das versammelte Publikum schweifen. Es kommen jetzt kaum noch neue Gäste hinzu, auf der Tanzfläche mischen sich zu New Model Army blond gelockte Abiturientinnen unter langhaarige Mantelträger, die stoisch ihre Zwei-Schritte-vor-zwei-Schritte-zurück-Routine durchhalten. Oliver beschließt, dass es Zeit ist zu gehen.
In der Nähe des Ausgangs fällt ihm ein schlaksiger Junge in Sonjas Alter auf, der an eine Säule lehnt und eine filterlose Zigarette raucht. Ihm hat er das Bild noch nicht gezeigt, aber als er gerade zu ihm gehen will, wirft er die erst zur Hälfte gerauchte Zigarette auf den Boden und geht auf die Tanzfläche, wo er mit eckigen Bewegungen zu tanzen beginnt. Oliver sieht ihm einen Moment zu, aber der Tanzstil des Jungen ist so unbeholfen, dass er es nicht lange aushält. Er umfasst das Foto in seiner Jackentasche und geht zum Ausgang.
Im Haus seiner Eltern brennt noch Licht. Er schließt vorsichtig die Tür auf und geht erst einmal in die Küche, um einen Schluck zu trinken. Als er schließlich das Wohnzimmer betritt, sitzt seine Mutter auf dem Sofa, als habe sie schon den ganzen Abend auf ihn gewartet. Er nickt zur Begrüßung, und als sie ihn fragend anblickt, schüttelt er nur den Kopf. Sie nickt und winkt ihn zu sich heran.
“Komm, setz dich was zu mir.”
Oliver setzt sich auf den Sessel, auf dem sonst sein Vater sitzt, und spürt plötzlich, wie müde er doch ist.
“Wie geht es dir denn eigentlich?”, fragt seine Mutter. “Die ganze Zeit dreht sich alles um Sonja, da habe ich dich noch gar nicht richtig gefragt, wie es an der Uni läuft. Kommst du mit deiner Arbeit gut voran?”
“Ja, das läuft ganz gut. Wahrscheinlich fahre ich demnächst nach München auf ein Symposion, wo ich einen Teil meiner Arbeit als Vortrag halte.”
Seine Mutter strahlt Oliver an, als sei er ein Neugeborenes.
“Wir sind so stolz auf dich.”
Er steht auf und fasst sie an den Schultern.
“Komm Mutti, lass uns schlafen gehen. Das war ein langer Tag heute.”
Sie fährt ihm mit der Hand durchs Haar und lächelt.
“Jawohl, Herr Doktor.”
Oliver wartet, bis sie ins Schlafzimmer gegangen ist, dann geht er nach oben ins Bad. Da sein altes Zimmer seit seinem Auszug als Esszimmer dient, hat seine Mutter ihm Sonjas Bett fertig gemacht, und so ist das letzte, was Oliver an diesem Tag sieht, das vom Mond beschienene, grinsende Gesicht von Morten Harket.

16.01.2008 16:14:11 

Donnerflug 6


Zunächst bemerkt Dahlmann den Auflauf gar nicht. Er kommt von einem Treffen des SDS und ist auf dem Weg nach Hause, in Gedanken ist er bereits bei seiner Lehrprobe, die er in zwei Tagen geben muss, er fragt sich, ob die Schüler auch dann so gut mitmachen werden, wenn es wirklich darauf ankommt, ob das Thema, das er vorbereitet hat, nicht doch zu schwer ist, ob in dieser chaotischen Zeit nicht sowieso am Ende alles ganz anders kommen wird, als er es sich jetzt vorstellt. Und tatsächlich hat es ganz den Anschein, als lauere das Unerwartete gleich hier an dieser Straßenkreuzung, auf der ein Pulk von ordentlichen Bürgern gerade einen Mann einkreist. Dahlmann sieht nur Rückenansichten, als er von der anderen Straßenseite kommt, gut hundert Leute drängeln sich da zusammen, er hört Männer schimpfen und als er fragt, was da im Gange ist, erfährt er, dass sie Dutschke haben.
Nur ist Dutschke zur Zeit gar nicht in Berlin, sondern in Amsterdam, das hat Dahlmann gerade noch beim SDS gehört, also ruft er in die Menge hinein: “Das ist nicht Dutschke!”, aber die Bürger, die sich zu ihm umdrehen, halten ihn gleich für einen Genossen des roten Wirrkopfs, kein Wunder bei seinen langen Haaren, und ignorieren dieses plumpe Ablenkmanöver. Noch zwei-, dreimal ruft Dahlmann, dann gibt er es auf und bemüht sich statt dessen, sich einen Weg zu dem Bedrängten zu bahnen, der von Männern im Anzug geschubst und drangsaliert wird, der erste offene Schlag liegt in der Luft und auch ein einzelner Schupo, der gerade vorbei kommt, macht wenig Anstalten, dem Mob Einhalt zu gebieten. Im Hin- und Hergewoge der Menge kann Dahlmann nur kurze Blicke auf den Mann erhaschen, der da des Volkes Unmut auf sich zieht, er sieht Dutschke gar nicht mal sehr ähnlich, dieselbe Frisur und auch der Bart, ja, aber von ganz anderer Statur. Doch offenbar reicht es, dass ein oder zwei Männer am Anfang überzeugt gewesen sind, dass er es ist, die anderen haben sich einfach angeschlossen und die, die hinten stehen, können ohnehin nichts sehen.
“Du Kommunistenschwein!”, ruft ein älterer Herr mit Brille und Homburg, der Dahlmann an einen seiner Lehrer erinnert. Der junge Mann, der inzwischen nicht mehr versucht, das Missverständnis aufzuklären, sondern bloß noch seine Haut retten will, drängt in Richtung eines Tabakladens an der Ecke, er kommt nur langsam voran, auch Dahlmann kommt nicht wirklich durch zu ihm. Fiele er jetzt hin, er würde einfach tot getrampelt.
Als das Dutschke-Double das nächste Mal in Dahlmanns Blick kommt, hat er eine blutende Wunde an der Stirn. Verzweifelt rüttelt er an der Tür des Ladens, den er immerhin erreicht hat, aber die ist vom Besitzer eilig abgeschlossen worden.
“Lassen Sie mich rein! Hilfe! Polizei!”
“Jetzt ruft er selber nach der Polizei, ha!”, höhnt jemand aus der Menge und gibt ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen, doch in diesem Moment ertönt ein lauter Pfiff aus einer Trillerpfeife, der Schupo hat sich endlich durchgedrungen und greift ein.
“Zurücktreten!”, ruft er mit fester Stimme, und die Menge reagiert auf diesen Ruf sofort, die Leute, die noch mit dem Eckenstehen-Paragrafen groß geworden sind, lassen von dem jungen Mann ab, der vor der Ladentür zu Boden gesunken ist, Blut läuft über sein Gesicht.
“Zurücktreten! Weitergehen!”, ordnet der Polizist immer wieder an, die Menge löst sich langsam auf, “da hast du noch mal Glück gehabt”, zischt ein Mann und will dem auf dem Boden Kauernden gerade noch einen Tritt verpassen, als er bemerkt, dass der Polizist ihn sieht, und schnell das Bein wieder zurückzieht.
Dahlmann hat jetzt freie Bahn zum Dutschke-Double, er kniet neben dem jungen Mann nieder und fragt ihn, ob er Schmerzen hat.
“Es geht schon”, antwortet er und rappelt sich mit Dahlmanns Hilfe wieder auf.
“Und Sie machen auch, dass Sie weiterkommen”, sagt der Polizist, der sich vor den beiden aufbaut, als wolle er selbst nun das vollenden, was der Mob angefangen hat.
“Hören Sie mal,” widerspricht Dahlmann, “sehen Sie nicht, dass der Mann Hilfe braucht? Rufen Sie lieber einen Krankenwagen.”
“Sie halten sich da mal schön raus, mit Ihnen rede ich gar nicht. Und Sie”, dies an den falschen Dutschke gerichtet, “gehen jetzt sofort weiter, sonst nehme ich sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses fest.”
“Das ist ja wohl nicht ihr Ernst”, sagt Dahlmann, “der Mann hier wäre gerade beinahe gelyncht worden. Wenn Sie schon jemanden festnehmen wollen, dann lieber diese Leute alle.”
Der Polizist dreht sich um, die Männer, die sich noch vor einer Minute am liebsten einem Blutrausch hingegeben hätten, sind wieder in ihre alltägliche Unauffälligkeit hinab getaucht.
“Ich sehe niemanden,” sagt der Polizist, “ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich weiß nur, dass Sie beide sehr viel Ärger bekommen, wenn Sie nicht sofort weitergehen.”
“Lassen Sie ihn”, hört der fassungslose Dahlmann den jungen Mann an seiner Seite flüstern und lässt sich von ihm fortziehen, fort von dem Polizisten, fort von dem Tabakladen, dessen Besitzer gerade die Tür aufschließt und den Schupo freundlich grüßt.

08.01.2008 20:39:16 

Donnerflug 5


Ein Ball fliegt durch den Raum und prallt mit hoher Geschwindigkeit gegen Olivers Schläger, ändert die Richtung und trifft die Wand, kommt zurück und wird von Holgers Schläger gegen die Seitenwand abgelenkt und so geht das immer hin und her, bis endlich einer der beiden den Ball verpasst und der andere einen Punkt bekommt. Denn um Punkte geht es beim Squash und auch darum, gut auszusehen, besonders wenn auf dem Court nebenan zwei junge Damen spielen, die eine blond, die andere dunkel, die unter Lachen und Haare-Zurückwerfen immer wieder einmal durch die gläserne Trennwand herüber schauen, als suchten sie noch Partner für ein gemischtes Doppel. Und so legen sich Holger und Oliver heute besonders ins Zeug, und das geht solange gut, bis die Blonde nebenan nach dem Ball springt, ihr Rock hoch fliegt, Oliver aus den Augenwinkeln das Aufblitzen ihres weißen Sportslips bemerkt und für einen Moment abgelenkt ist. Als nächstes sitzt er mit blutender Nase auf dem Boden, Holger kann sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen und die beiden Hübschen auf dem Nachbarcourt kichern und tuscheln und halten sich die Hände vor den Mund.
“Tut mir echt Leid”, sagt Holger, der für seine noch in Arbeit befindliche Dissertation über Lacan und das Fernsehen schon bereits mehrere Angebote von namhaften Wissenschaftsverlagen vorliegen hat, und hilft Oliver beim Aufstehen. “Warte, ich hole ein Handtuch.”
Er verlässt den Court, während Oliver versucht, in dem Muster seiner Blutflecken auf dem Linoleum eine verborgene Bedeutung zu erkennen. Auch auf dem Weg zur Umkleide hält er den Blick auf den Boden gerichtet, das Handtuch verbirgt sein Gesicht vor möglichen Begegnungen mit anderen Squash-Spielern, die er vom Sehen kennt. Den Ball ins Gesicht zu bekommen, das ist wirklich der schlimmste Anfängerfehler, der einem passieren kann. In der Umkleide dann spritzt er sich kaltes Wasser ins Gesicht, die Blutung hat inzwischen aufgehört und Holgers Handtuch kann eine Behandlung mit Gallseife vertragen.
“Wieder in Ordnung?”, fragt Holger, und sein zur Schau gestelltes Mitgefühl kann nicht darüber hinweg täuschen, dass er es war, der zum Zeitpunkt des Unfalls gerade mit vier Punkten hinten lag.
“Geht schon”, sagt Oliver und betrachtet sich im Spiegel über dem Waschbecken. Auch nach dem Abwaschen des Blutes ist seine Nase noch rot und geschwollen, er sieht aus wie ein Clown. “Ausgerechnet morgen früh habe ich einen Termin bei Schlösser.”
“Sag ihm einfach, du müsstest anschließend auf einen Kindergeburtstag.”
“Sehr witzig.”
Schlösser ist nicht nur Holgers, sondern auch sein Doktorvater, aber anders als Holger, dessen Ruf als akademisches Wunderkind ihm überall Herzen und Türen öffnet, ist sich Oliver nicht so sicher, wie sein Professor über ihn denkt.
“Im Ernst”, sagt Holger und fängt an sich umzuziehen, “Schlösser hält mehr von dir als du denkst. Er würde dich bestimmt auch mit nach München nehmen, wenn du ihm doch noch was abgibst.”
“Die Frist ist doch längst abgelaufen.”
“Aber Schlösser ist einer der Hauptorganisatoren, da lässt sich immer noch was machen. Hättest du denn was?”
Oliver knöpft sein Hemd auf und zieht es vorsichtig über den Kopf.
“Ich weiß nicht”, sagt er dann, “ich könnte was aus der Diss auskoppeln.”
“Dann mach das doch.”
Holger ist so unglaublich behaart, dass es Oliver jedesmal aufs Neue die Sprache verschlägt. Sein gesamter Oberkörper ist von einer dunklen Wolle bedeckt, er sieht aus wie ein Wolfskind. Auch jetzt kann Oliver sich nur mit Mühe von dem Anblick losreißen, er stellt den rechten Fuß auf die Bank und löst die Schleife, aber er ist unkonzentriert und verknotet den Schnürsenkel nur noch mehr. Mit größter Selbstbeherrschung schafft er es, die Ruhe zu bewahren und das Durcheinander systematisch zu entwirren.
“Alles in Ordnung?”, fragt Holger, der inzwischen fertig umgezogen ist und seine Sportsachen in seiner Tasche verstaut.
“Mir ist ein bisschen schwindlig”, lügt Oliver und schafft es endlich, den Schuh vom Fuß zu lösen. “Aber du kannst ruhig schon vorgehen, wenn du willst.”
Holger steht unschlüssig in der Tür, dann winkt er ab. “Ich warte lieber. Nachher fällst du mir noch die Treppe runter oder so was.”
Beim Essen dann redet er ununterbrochen. Diese fast schon wieder kindliche Freude über Olivers Missgeschick, durch das ihm eine sichere Niederlage erspart geblieben ist, hat bei ihm eine Art Enthemmung bewirkt; in bester Laune erzählt er Oliver eine blöde Geschichte nach der anderen. Die beiden sitzen im Restaurant des Clubs, Holger hat Paella bestellt, denn seine neue Freundin ist Spanierin. Oliver hat sie noch nicht gesehen, aber Holger hat selbstverständlich ein Foto von ihr dabei. Sie arbeitet als Stewardess für Iberia, und so wie sie aussieht, hat sie sicher nicht nur in einer Stadt einen Freund.
“Letzte Woche waren wir in Berlin zusammen,” erzählt Holger, “sogar einen Nachmittag im Osten. Christina hat gar nicht geglaubt, dass man mit dem Geld da was kaufen kann.”
“Kann man ja auch nicht.”
Holger lacht, steckt sich ein Stück Hühnchen in den Mund und redet weiter.
“Süß war auch, wie wir dann wieder im Westen am Schauspielhaus vorbeigekommen sind und ich ihr gesagt habe, dass das Schinkel gebaut hat. Da hat sie mich mit großen Augen angeschaut und gefragt: ‚Schinkel, ist das nicht zu essen?‘”
Holger lacht schon wieder, und Oliver ruft nach Corinna, der Bedienung, die gerade träge an der Bar steht und frischen Orangensaft presst, mit der Maschine natürlich, mit der Hand könnte sie gar nicht die nötige Energie aufbringen. Irgend jemand muss ihr mal gesagt haben, dass es sexy wirkt, wenn Frauen so eine nachlässige Haltung einnehmen, aber bei ihr wirkt es nicht sexy, sondern nur müde und alt, als habe sie ein Problem mit dem Rücken. Sie reagiert erst auf einen erneuten Ruf und kommt gelangweilt an den Tisch. Oliver bestellt einen Grappa, und auch Holger möchte plötzlich noch etwas trinken. Während Corinna sich wartend mit einer Hand auf dem Tisch abstützt, studiert Holger seelenruhig die Getränkekarte.
“Ich kann auch noch mal wiederkommen”, sagt Corinna schließlich.
“Nein, nein, nicht nötig, ich weiß jetzt, was ich will.”
Holger blickt ihr tief in die Augen und bestellt allen Ernstes einen Blue Curaçao. Corinna wirft ihm einen wütenden Blick zu, der so gar nicht zu ihrer sonstigen Lethargie zu passen scheint, dreht sich dann um und kehrt an die Bar zurück. Holger ist sichtlich stolz auf die gelungene Provokation, deren Hintergrund sich Oliver entzieht. Als Corinna das nächste Mal an den Tisch kommt, stellt sie nur den Grappa hin und beachtet Holger gar nicht, der auch keine Anstalten macht, sich nach dem Verbleib seines Getränkes zu erkundigen. Oliver leert sein Glas in einem Zug und steht eilig auf.
“Also Holger, danke noch mal für die Einladung. Ich muss leider dringend los, wir sehen uns dann am Seminar?”
“Was ist denn? Was hast du denn auf einmal?”
“Ich muss los, wirklich. Bis dann.”
Während er zur Tür geht, spürt Oliver Holgers Blicke förmlich in seinem Rücken. Er versucht, noch einen Blick von Corinna zu erheischen, aber die widmet sich weiter mit doch recht unnatürlicher Ausschließlichkeit ihrer Saftpresse.

02.12.2007 11:51:46 

Donnerflug 5


Ein Ball fliegt durch den Raum und prallt mit hoher Geschwindigkeit gegen Olivers Schläger, ändert die Richtung und trifft die Wand, kommt zurück und wird von Holgers Schläger gegen die Seitenwand abgelenkt und so geht das immer hin und her, bis endlich einer der beiden den Ball verpasst und der andere einen Punkt bekommt. Denn um Punkte geht es beim Squash und auch darum, gut auszusehen, besonders wenn auf dem Court nebenan zwei junge Damen spielen, die eine blond, die andere dunkel, die unter Lachen und Haare-Zurückwerfen immer wieder einmal durch die gläserne Trennwand herüber schauen, als suchten sie noch Partner für ein gemischtes Doppel. Und so legen sich Holger und Oliver heute besonders ins Zeug, und das geht solange gut, bis die Blonde nebenan nach dem Ball springt, ihr Rock hoch fliegt, Oliver aus den Augenwinkeln das Aufblitzen ihres weißen Sportslips bemerkt und für einen Moment abgelenkt ist. Als nächstes sitzt er mit blutender Nase auf dem Boden, Holger kann sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen und die beiden Hübschen auf dem Nachbarcourt kichern und tuscheln und halten sich die Hände vor den Mund.
“Tut mir echt Leid”, sagt Holger, der für seine noch in Arbeit befindliche Dissertation über Lacan und das Fernsehen schon bereits mehrere Angebote von namhaften Wissenschaftsverlagen vorliegen hat, und hilft Oliver beim Aufstehen. “Warte, ich hole ein Handtuch.”
Er verlässt den Court, während Oliver versucht, in dem Muster seiner Blutflecken auf dem Linoleum eine verborgene Bedeutung zu erkennen. Auch auf dem Weg zur Umkleide hält er den Blick auf den Boden gerichtet, das Handtuch verbirgt sein Gesicht vor möglichen Begegnungen mit anderen Squash-Spielern, die er vom Sehen kennt. Den Ball ins Gesicht zu bekommen, das ist wirklich der schlimmste Anfängerfehler, der einem passieren kann. In der Umkleide dann spritzt er sich kaltes Wasser ins Gesicht, die Blutung hat inzwischen aufgehört und Holgers Handtuch kann eine Behandlung mit Gallseife vertragen.
“Wieder in Ordnung?”, fragt Holger, und sein zur Schau gestelltes Mitgefühl kann nicht darüber hinweg täuschen, dass er es war, der zum Zeitpunkt des Unfalls gerade mit vier Punkten hinten lag.
“Geht schon”, sagt Oliver und betrachtet sich im Spiegel über dem Waschbecken. Auch nach dem Abwaschen des Blutes ist seine Nase noch rot und geschwollen, er sieht aus wie ein Clown. “Ausgerechnet morgen früh habe ich einen Termin bei Schlösser.”
“Sag ihm einfach, du müsstest anschließend auf einen Kindergeburtstag.”
“Sehr witzig.”
Schlösser ist nicht nur Holgers, sondern auch sein Doktorvater, aber anders als Holger, dessen Ruf als akademisches Wunderkind ihm überall Herzen und Türen öffnet, ist sich Oliver nicht so sicher, wie sein Professor über ihn denkt.
“Im Ernst”, sagt Holger und fängt an sich umzuziehen, “Schlösser hält mehr von dir als du denkst. Er würde dich bestimmt auch mit nach München nehmen, wenn du ihm doch noch was abgibst.”
“Die Frist ist doch längst abgelaufen.”
“Aber Schlösser ist einer der Hauptorganisatoren, da lässt sich immer noch was machen. Hättest du denn was?”
Oliver knöpft sein Hemd auf und zieht es vorsichtig über den Kopf.
“Ich weiß nicht”, sagt er dann, “ich könnte was aus der Diss auskoppeln.”
“Dann mach das doch.”
Holger ist so unglaublich behaart, dass es Oliver jedesmal aufs Neue die Sprache verschlägt. Sein gesamter Oberkörper ist von einer dunklen Wolle bedeckt, er sieht aus wie ein Wolfskind. Auch jetzt kann Oliver sich nur mit Mühe von dem Anblick losreißen, er stellt den rechten Fuß auf die Bank und löst die Schleife, aber er ist unkonzentriert und verknotet den Schnürsenkel nur noch mehr. Mit größter Selbstbeherrschung schafft er es, die Ruhe zu bewahren und das Durcheinander systematisch zu entwirren.
“Alles in Ordnung?”, fragt Holger, der inzwischen fertig umgezogen ist und seine Sportsachen in seiner Tasche verstaut.
“Mir ist ein bisschen schwindlig”, lügt Oliver und schafft es endlich, den Schuh vom Fuß zu lösen. “Aber du kannst ruhig schon vorgehen, wenn du willst.”
Holger steht unschlüssig in der Tür, dann winkt er ab. “Ich warte lieber. Nachher fällst du mir noch die Treppe runter oder so was.”
Beim Essen dann redet er ununterbrochen. Diese fast schon wieder kindliche Freude über Olivers Missgeschick, durch das ihm eine sichere Niederlage erspart geblieben ist, hat bei ihm eine Art Enthemmung bewirkt; in bester Laune erzählt er Oliver eine blöde Geschichte nach der anderen. Die beiden sitzen im Restaurant des Clubs, Holger hat Paella bestellt, denn seine neue Freundin ist Spanierin. Oliver hat sie noch nicht gesehen, aber Holger hat selbstverständlich ein Foto von ihr dabei. Sie arbeitet als Stewardess für Iberia, und so wie sie aussieht, hat sie sicher nicht nur in einer Stadt einen Freund.
“Letzte Woche waren wir in Berlin zusammen,” erzählt Holger, “sogar einen Nachmittag im Osten. Christina hat gar nicht geglaubt, dass man mit dem Geld da was kaufen kann.”
“Kann man ja auch nicht.”
Holger lacht, steckt sich ein Stück Hühnchen in den Mund und redet weiter.
“Süß war auch, wie wir dann wieder im Westen am Schauspielhaus vorbeigekommen sind und ich ihr gesagt habe, dass das Schinkel gebaut hat. Da hat sie mich mit großen Augen angeschaut und gefragt: ‚Schinkel, ist das nicht zu essen?‘”
Holger lacht schon wieder, und Oliver ruft nach Corinna, der Bedienung, die gerade träge an der Bar steht und frischen Orangensaft presst, mit der Maschine natürlich, mit der Hand könnte sie gar nicht die nötige Energie aufbringen. Irgend jemand muss ihr mal gesagt haben, dass es sexy wirkt, wenn Frauen so eine nachlässige Haltung einnehmen, aber bei ihr wirkt es nicht sexy, sondern nur müde und alt, als habe sie ein Problem mit dem Rücken. Sie reagiert erst auf einen erneuten Ruf und kommt gelangweilt an den Tisch. Oliver bestellt einen Grappa, und auch Holger möchte plötzlich noch etwas trinken. Während Corinna sich wartend mit einer Hand auf dem Tisch abstützt, studiert Holger seelenruhig die Getränkekarte.
“Ich kann auch noch mal wiederkommen”, sagt Corinna schließlich.
“Nein, nein, nicht nötig, ich weiß jetzt, was ich will.”
Holger blickt ihr tief in die Augen und bestellt allen Ernstes einen Blue Curaçao. Corinna wirft ihm einen wütenden Blick zu, der so gar nicht zu ihrer sonstigen Lethargie zu passen scheint, dreht sich dann um und kehrt an die Bar zurück. Holger ist sichtlich stolz auf die gelungene Provokation, deren Hintergrund sich Oliver entzieht. Als Corinna das nächste Mal an den Tisch kommt, stellt sie nur den Grappa hin und beachtet Holger gar nicht, der auch keine Anstalten macht, sich nach dem Verbleib seines Getränkes zu erkundigen. Oliver leert sein Glas in einem Zug und steht eilig auf.
“Also Holger, danke noch mal für die Einladung. Ich muss leider dringend los, wir sehen uns dann am Seminar?”
“Was ist denn? Was hast du denn auf einmal?”
“Ich muss los, wirklich. Bis dann.”
Während er zur Tür geht, spürt Oliver Holgers Blicke förmlich in seinem Rücken. Er versucht, noch einen Blick von Corinna zu erheischen, aber die widmet sich weiter mit doch recht unnatürlicher Ausschließlichkeit ihrer Saftpresse.

02.12.2007 11:51:46 

Donnerflug 4


Jordan schaut auf die Uhr, ein Erbstück seines Großvaters, wegen der ihn die anderen aus der K-Gruppe schon des öfteren aufgezogen haben. Er hat ihnen ausführlich erklärt, dass sein Großvater 1933 schon längst tot war, dass ihn 1917 eine Kugel im Schützengraben getroffen hat, dass es nichts Anrüchiges an dieser Uhr gibt, aber nun ist es eben keine ernsthafte Kritik mehr, die er sich anhören muss, sondern einfach nur eine alberne Frotzelei, als seien sie alle noch in der Grundschule und er habe unter dem Pult heimlich sein Schmusetuch versteckt. Es ist wirklich lächerlich, und erst beim letzten Treffen hat sich Jordan vorgenommen, dass er höchstens noch zweimal kommen wird, und wenn dann diese Scherze nicht aufgehört haben, wird sich sein politischer Widerstand eben andere Bahnen suchen müssen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Gabi zu spät kommt, er ist das von ihr gewohnt, außerdem ist die Lage in Berlin in diesen Tagen so unübersichtlich, dass man sich nicht auf den Verkehr verlassen kann, wahrscheinlich sorgt gerade wieder einmal irgendwo ein Sit-in für Chaos. Trotzdem ärgert ihn diese Unpünktlichkeit, er weiß nie, wie lange er warten soll, und heute sagt er sich bereits nach fünfzehn Minuten, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht mehr kommen wird.
Was also tun mit dem Nachmittag? Das Wetter ist durchwachsen, der Himmel sieht nach Regen aus und warm ist es auch nicht, ein Spaziergang durch die Stadt kommt für ihn nicht in Frage. Er ist unruhig, er weiß nicht, wie es mit Gabi weitergehen soll, zwei Monate sind sie jetzt schon zusammen, eine lange Zeit für seine und auch ihre Verhältnisse, für die Verhältnisse insgesamt, denn warum für die sexuelle Revolution kämpfen, wenn sie sich nicht auch im Leben auswirkt? Warum das Ende der Monogamie ausrufen, wenn man dann doch eine feste Beziehung hat? Dabei ist es nicht einmal so, dass Gabi klammern würde, er selbst stellt an sich ein Verlangen fest nach so etwas wie Treue, er weiß, dass Gabi sich auch ab und zu mit einem andern trifft, er würde ihr das niemals vorwerfen, aber ärgern tut es ihn doch. Wenn er denen von der K-Gruppe das erzählen würde, hielten die ihn gleich für einen Faschisten, wahrscheinlich tun sie das ohnehin, er sollte da wirklich nicht mehr hingehen. Und warum ist Gabi nicht gekommen?
Ein Streifenpolizist mustert ihn argwöhnisch, die langen Haare lassen ihn verdächtig wirken. Mit demonstrativer Freundlichkeit grüßt er den Schupo, der nickt und kurz darauf die Straßenseite wechselt. Jordan geht weiter, er weiß selbst nicht wohin, schon jetzt dämmert ihm langsam, dass das wieder einer dieser Tage sein wird, an denen er nur ziellos durch die Gegend streift, die Unordnung in seinem Kopf ihn immer weiter durch die Stadt treibt, bis am Ende wenigstens ein, zwei Fotos dabei herausspringen. Er umfasst die Kamera in seinem Mantel, vielleicht hätte er den Polizisten gerade aufnehmen sollen? Er wendet sich noch einmal um, tatsächlich steht der Schupo noch auf der anderen Straßenseite und schaut ihm hinterher. Er holt die Kamera hervor, der andere beobachtet dies mit großem Interesse; dann, als er den Apparat vor das Gesicht hält, setzt sich der Polizist, ein junger Mann, nicht älter als er selbst, mit hoch erhobenem Arm in Bewegung, läuft auf die Straße, auf der in diesem Moment ein Lastwagen vorbeikommt, der gerade noch vor dem Uniformierten anhalten kann. In diesem Moment drückt Jordan auf den Auslöser und bannt auf seinen Film das Gesicht des jungen Beamten, auf dem die Strenge der Staatsgewalt und das Erschrecken über den Beinahe-Unfall in einem höchst eigenartigen Ausdruck aufeinander treffen. Nun steigt erbost der Lastwagenfahrer aus und Jordan nutzt die Gelegenheit, sich eilig um die nächste Ecke davon zu machen, den Fotoapparat wie eine Beute unter den Arm geklemmt.
Eine Stunde später ist er noch immer unterwegs, längst ist die Freude über das geschossene Foto einem unbestimmten Frust gewichen, einem Ärger über das Versetzt-Werden, der nicht so groß wäre, wenn er wenigstens mit der Zeit etwas Vernünftiges anzufangen wüsste und nicht so wie getrieben durch die Stadt laufen müsste. Und zu allem Überfluss stellt er sich jetzt auch noch vor, wie Gabi das Treffen nicht nur vergessen hat, sondern gerade in diesem Moment mit einem anderen zusammen ist, als ob ihn das etwas anginge. Er biegt auf den Kurfürstendamm ein, geht weiter Richtung Zoo im Fluss der Passanten, bis er hinter einer Unterführung vor einem dieser Schmuddelkinos vorbeikommt, und ehe ihm überhaupt bewusst wird, dass er gerade einen Entschluss gefasst hat, ist er schon durch die Türe hindurch, holt ein paar Mark aus der Tasche und zahlt den Eintritt. Es herrscht ein schummriges Zwielicht, Staub tanzt vor ihm in der Luft, er schiebt den schweren Samtvorhang beiseite und setzt sich in die letzte Reihe. Außer ihm ist niemand im Kino. Es kommt etwas Werbung, dann geht gleich der Hauptfilm los, ein eilig heruntergekurbeltes Filmchen mit dem Titel Die Stewardessen, dessen Geschichte sich um ebensolche dreht, die in einer Art emanzipiertem weiblichem Matrosentum an jedem Flughafenort einen anderen Mann haben. Naturgemäß gibt es nicht viel Handlung, die Frauen fliegen von einer Sexszene zur nächsten, dazwischen gibt es dann Aufnahmen von startenden und landenden Flugzeugen, die aussehen, als seien sie aus anderen Filmen geklaut. Eine der Frauen, eine kleine Blonde mit einem Schönheitsfleck auf der Wange, erinnert ihn ein wenig an Gabi. Er weiß selbst nicht, was er davon halten soll, dass er nun gerade in einem Sexkino an sie denken muss; in einer Szene, in der die Blonde nackt auf einer Schaukel sitzt und immer zum Betrachter hin und wieder zurück schaukelt, so hin und her, als würden sie und Jordan gerade vögeln, ist es ihm dann auch egal, er steckt die Hand in die Hose, doch dann kommt schon der nächste Schnitt, ein blöder Jumbo hebt sich in die Lüfte, und Jordan wartet gar nicht erst, bis seine Erektion abgeklungen ist. Wie seekrank stürzt er aus dem Kino, draußen blendet ihn das Tageslicht, eine junge Frau kommt ihm entgegen, die in einer ziemlich durchsichtigen Bluse ihre festen Brüste stolz spazieren führt, die sich erst unlängst aus dem autoritären Gefängnis ihres Büstenhalters befreit haben. Sie lächelt ihn freundlich an, ihm fällt ein, woher er sie kennt: es ist Uschi, die seit kurzem auch in die K-Gruppe kommt und ihm nach dem letzten Treffen hinter vorgehaltener Hand gesagt hat, dass ihr seine Uhr gefällt.

17.11.2007 10:25:19 

Donnerflug 3


Die besetzten Häuser der Hafenstraße glänzen im Licht der Mittagssonne in all den bunten Farben, mit denen ihre phantasievollen Bewohner die maroden Wände verschönt haben. Während Oliver das Fischbrötchen isst, das er sich auf der nahe gelegenen Reeperbahn gekauft hat, liest er die für die notwendige Verbindung von Ästhetik und Politik sorgenden Parolen, die in und zwischen die Bilder gepinselt sind. Freiheit statt Volkszählung, Sonne statt Reagan oder Petting statt Pershing: eine ganze Geschichte der Bundesrepublik der 80er Jahre ließe sich hier für künftige Archäologen ablesen, wenn denn die Häuser nur lange genug erhalten blieben. Aber ob die Besetzer dafür einen Sinn haben? Das Haus 116, zu dem Oliver will, beherbergt auch die legendäre Volxküche, die um diese Zeit in vollem Betrieb ist. Es herrscht eine Stimmung wie bei der Heilsarmee, nur dass die blauen Uniformen fehlen und es statt erbaulicher Lieder zur Gitarre Ton Steine Sterben aus einem alten Ghettoblaster gibt. Oliver findet es gar nicht so leicht, die Penner, die sich hier eine billige Mahlzeit abholen kommen, von den regulären Hausbewohnern zu unterscheiden – andererseits sind Penner ja auf ihre Art auch ganz schön autonom. Er dagegen fällt bestimmt jedem sofort auf; bevor ihm also jemand blöd kommen kann, wirft er den Rest des Brötchens weg und wendet sich an ein gutaussehendes Mädchen mit Nasenring, das sich gerade einen Teller Suppe geholt hat.
“Weißt du, wo Bolle ist?”, fragt Oliver, als habe er erst letzte Nacht mit ihr und Bolle einen flotten Dreier geschoben.
“Wieso willst du das wissen?” fragt sie barsch zurück, offenbar hält sie ihn eher für einen Bullen in Zivil.
“Ich muss mit ihm reden. Ich bin ein Freund von Paul.”
“Welcher Paul?”
Das Mädchen ist höchstens achtzehn, zu der Zeit also, als Paul hier gewohnt hat, hat sie noch brav zu Hause ihre Klavierstunden absolviert.
“Ok, vergiss das mit Paul. Sag mir einfach, wo ich Bolle finde. Ich suche meine Schwester, und er weiß vielleicht, wo sie ist.”
“Bist du ein Bulle?”
Auf dieses Reizwort hin drehen sich gleich mehrere Gesichter zu den beiden um, ein schlaksiger Enddreißiger in Lederjacke schaltet sich väterlich in das Gespräch ein.
“Was ist denn los, Mona? Macht der Typ Ärger?”
Oliver hebt beschwichtigend die Hände, dann, in einer Bewegung, die langsam genug ist, selbst Don Johnson in Miami Vice zufriedenzustellen, holt er Sonjas Foto aus seiner Brusttasche und hält es Monas Beschützer hin.
“Das ist meine Schwester, Sonja. Sie ist vor ein paar Tagen von zu Hause abgehauen, und meine Eltern machen sich große Sorgen um sie. Ich dachte, sie ist vielleicht hier.”
“Wird schon ihre Gründe gehabt haben abzuhauen”, zeigt sich der Typ von seiner verständnisvollen Seite.
“Lass mal gucken”, sagt Mona, nimmt sich das Foto und vergleicht es mit Oliver. “Die sieht ja aus wie du”, sagt sie dann und ist damit die erste überhaupt, die zwischen den beiden Geschwistern eine Ähnlichkeit bemerkt. Vielleicht gefällt ihr auch nur die Vorstellung, dass sich da Eltern wirklich einmal Sorgen um ihre Tochter machen. Jedenfalls gibt sie dem Lederjackenmann mit einem Blick zu verstehen, dass er die Sache ruhig ihr überlassen kann.
“Bolle wohnt im zweiten Stock, die Tür mit dem RAF-Poster”, sagt sie und gibt Oliver das Foto zurück, dabei berühren sich kurz ihre Hände.
“Danke.”
Mona lächelt wie ein Pfadfinder nach seiner guten Tat, dann wendet sie sich wieder ihrer Suppe zu. Aus der Volxküche führt eine Tür ins Treppenhaus, die auch wie die Eingangstür eher einer Safetür ähnelt. Die Angeln sind mit Stahl verstärkt, mehrere Dellen in der Tür selbst zeugen von diversen Polizeianstürmen, die das Haus schon hinter sich hat. Die Treppe nach oben dagegen ist stark baufällig, an mehreren Stellen fehlt das Geländer, und auch einige der Stufen sehen nicht so aus, als würden sie noch lange halten. Vom Treppenabsatz im zweiten Stock führen drei Türen in die Wohnungen, anstelle von Namensschildern haben die Bewohner jeweils ein Poster an die Tür geklebt. Links wird Oliver von einem Spruchband zur Solidarität mit dem palästinensischen Volksaufstand aufgefordert, dazu heißt es dann ganz praxisnah Boykottiert Israel – Läden Strände Kibbuzim; in der Mitte hängt eine extra billig aussehende Photomontage des toten Barschels in der Badewanne, mit Engholms feixendem Gesicht, komplett mit Pfeife, darauf montiert, die Bildunterschrift lautet Sehr witzig, Herr Engholm; die rechte Tür schließlich trägt das bekannte RAF-Emblem mit dem Maschinengewehr. Oliver klopft, von innen ertönt ein dumpfes Stöhnen, dann nähern sich schlurfende Schritte, und ein Mann in seinem Alter öffnet die Tür. Er blinzelt seinen Besuch verschlafen an, auf seinem Kopf stapeln sich wirr seine blonden Rastalocken.
“Was ist denn?” fragt er, ein Gähnen unterdrückend.
“Bist du Bolle?”
“Und wer bist du?”
“Ich heiße Oliver. Ich bin ein Freund von Paul.”
“Paul? Der Paul, der nach München weg ist? Na, komm erst mal rein.”
Bolle öffnet die Tür zu einem dunklen, nach Weihrauch duftendem Flur. Die Wände sind übersät mit Bildern von Che Guevara, Karl Marx und anderen linken Größen, die nackte Rückenansicht der Kommune 1 ziert eine Tür, hinter der wohl die Toilette liegen dürfte. Bolle geht mit Oliver in die Küche, die dagegen erstaunlich aufgeräumt wirkt. Er stellt zwei Gläser mit Leitungswasser auf den Tisch und guckt ihn abwartend an.
“Es geht um meine Schwester Sonja”, sagt Oliver seinen Spruch auf, “sie ist letzte Woche von zu Hause abgehauen, und meine Eltern machen sich große Sorgen um sie.”
“Und du nicht?”, unterbricht ihn Bolle.
“Ich? Klar mache ich mir auch Sorgen, ich kann die Sache nur vielleicht etwas realistischer einschätzen als meine Eltern, die sich gleich Gott weiß was denken.”
“Und was denkst du dir?”
“Ich denke, dass sie hier in Hamburg ist. Paul meinte, du könntest dich vielleicht mal umhören.”
Bolle lächelt. Oliver gibt ihm das Bild, das er sich in die Hemdtasche steckt, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
“Und wie erreiche ich dich, wenn ich wirklich was höre?”
“Hast du was zu schreiben?”
Bolle holt das Foto wieder hervor und reicht Oliver einen abgekauten Bleistift dazu, mit dem dieser seine Telefonnummer auf der Rückseite notiert.
“Also dann,” sagt Oliver und gibt Bild und Bleistift zurück, “und danke.”
“Du weißt ja, wo‘s rausgeht.”
Im Gehen sieht er noch, wie Bolle den Kühlschrank aufmacht, dann ist er schon auf der Treppe und auf dem Weg nach unten. Als er durch die Volxküche nach draußen geht, sitzt Mona mit ihrem Lederjackenmann knutschend in einer Ecke, was Oliver nicht ohne einen Anflug von Bedauern registriert.

08.11.2007 18:30:22 

Donnerflug 2


“Das ist ja richtig Arbeit”, sagt Oliver, nachdem er 18 Kerzen angezündet hat, und wischt sich an der Schürze seiner Mutter die Hände, die bei der Prozedur etwas Sahne abbekommen haben. Die beiden stehen in der Küche, draußen wartet das Geburtstagskind mit der Verwandtschaft, auf ein Zeichen hin schaltet der Vater nun das Licht aus und unter vielen Ahs! und Ohs! wird die Torte ins Wohnzimmer getragen. Ein Blitzlichtgewitter bricht los, aber die Szene muss nicht wiederholt werden, alles klappt beim ersten Mal. Vor Sonja wird die Torte auf den Tisch gestellt, sie holt tief Luft und pustet, pustet mit ganzer Kraft und schafft auf Anhieb alle Kerzen bis auf eine, was nicht nur von ihr selbst als schlechtes Zeichen gewertet wird. Sie blickt zu ihrem Bruder, ihren Eltern, und als ein wenig feinfühliger Cousin sie auffordert: “Nun mach schon!”, laufen ihr bereits die ersten Tränen über das Gesicht.

06.11.2007 12:16:11 

Donnerflug 1


Eine Torte fliegt durch den Raum.
Eine Tür wird geöffnet und wieder geschlossen.
Eine Torte –

06.11.2007 11:42:47 

Donnerflug 1


Eine Torte fliegt durch den Raum.
Eine Tür wird geöffnet und wieder geschlossen.
Eine Torte –

06.11.2007 11:42:47 

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