DB-011 (4) (Blackout, Blackout)

Blackout, Blackout. Auf einem Abhang vor Schloten üben zwei Burschen Karate. Auf einem Fußballfeld zwischen Wohnsilos spielt Blau gegen Rot. Auf einem Fluß schweben schwerbeladene Kähne zum Zentrum. Der Himmel schickt aus einer barocken Wolkenzusammenballung ein blendendes Strahlenbündel auf den Zug. Zugleich signalisieren die Schienenfugen die immer langsamere Annäherung ans Ziel.

Am Wechselschalter des Ostbahnhofs wachsen aus einem österreichischen Tausender mehrere DDR-Zwanziger und leichtgewichtiges Kleingeld. Es reicht, um mit einem Taxi, über Querrillen humpelnd, durch Wasserlacken patschend, zu einem einstöckigen Haus chauffiert zu werden, der Villa der Frau König, die aus ihrer Dachgeschoßwohnung ungeniert auf die Ankömmlinge herabblickt, erkennt, was sie sind: zwei Westler, ein großer Brünetter mit blonder Strähne, bekleidet mit einem schwarzen, westlichen Steppmantel, eine deutlich ältere, einen Kopf kleinere, schwarzhaarige Frau in einer Hasenfelljacke, mit einem langen Schal in Rot- und Violett-Tönen um den Hals, jetzt beide zwei eindeutig westliche Koffer und Taschen in ihr ehemaliges Besitztum schleppend, das sie nun seit mehr als einem Jahrzehnt mit Lenas Verwandten, Götz und Beate und ihren beiden Söhnen, zu teilen hat. Eilfertig erwartet sie die beiden im Flur mit den zurückgelassenen Schlüsseln und beobachtet Stefans Aufsperrversuche, bis Lena die Geduld verliert und mit einem einzigen Dreh die Tür öffnet.

Während Stefan das Gepäck in die Wohnung transportiert, betritt Lena das Wohnzimmer und starrt in den fast leeren Raum, wo die wenigen Gegenstände so angeordnet sind, daß jeder Schritt, jede Kopf- und Armbewegung Symmetrien und Kontrapunkte zerstören muß. Trotzdem schleicht sie sich auf dem dunkelglänzenden Parkettboden weiter zum Schlafzimmer, schließt die Kastentüren auf, staunt über die weiße Glätte des Bettzeugs, über die scharfen Kanten der Hosen und die rechten Winkel im Pulloverstapel.

Stefan macht sich sofort an dem kleinen Schreibtisch vor dem dreiteiligen Regal links neben dem Fenster zu schaffen, mit der Ausrede, nach einer Nachricht der abwesenden Gastgeber zu suchen. Zwischen Büchern, Zeitschriften und einem Zettelkasten, in dem gelbliche Kärtchen stecken, mit grüner Tinte eng beschriftet, entdeckt er tatsächlich ein Blatt, das mit Servus beginnt, an Lena gerichtet. Als er es wegnimmt, kommen darunter einige Fotos zum Vorschein, von denen eines eine nackte Frau zeigt, mit spitzem Mund und kleinen, fanatisch wirkenden Augen, vor dem Hintergrund eines südlichen Felsstrands. Es muß Beate, Lenas Cousine, sein.

Er verbirgt das Foto wieder zwischen den andern, als sich Lena ihm zuwendet, damit sie sich nicht gleich über seine Neugier mokieren kann, hält ihr aber das Blatt mit Notizen entgegen, die Abteilungen Heizen, Schlafen, Waschen, Essen, Schnee und Sonstiges umfassend. Auf ihr Zeichen hin studiert er selbst es genauer: In großer, nach rechts ausgreifender Schrift hat Götz, der Ehemann Beates, die Leitlinien für die ersten Tage der Gäste in seiner Wohnung fixiert.

Beate hat nur ein paar Zeilen angefügt, mit denen sie vor allem vor dem Betreten des Arbeitsraums von Götz - er befindet sich in der Veranda - mit dem Hinweis auf eine gewisse Empfindlichkeit warnt, was aber Stefan nicht hindert, den Raum zu begutachten. Er ist vom Wohnzimmer durch eine weißlackierte Holzwand abgetrennt, die ab Hüfthöhe in ein kleinteiliges Fenstergerüst übergeht, durch eine Doppeltür mit ihm verbunden. Eine günstige Position: Man kann sowohl die Straße als auch die Wohnung kontrollieren und als Arbeitender von draußen und drinnen wahrgenommen werden.

Stefan überfliegt die Zeichenblätter, die Farben und Pinsel, die zusammengerollten Plakate, die Skizzen an den beiden Stirnwänden - Filmplakate, Verpackungsentwürfe, hingeworfene Covers - und konzentriert sich dann wieder auf den Brief, in dem die Rede von vier Heizmöglichkeiten ist: erstens die Gasheizkörper, die aber nur bis null Grad Außentemperatur reichen; sollte es kälter werden - zweitens -: Greif zur Kohle hinteren Vorhang in der Küche, die - drittens - mit Strom geheizt wird, vor dessen Benützung aber mit dem Verweis auf die Labilität des Netzes gewarnt wird. Dafür gibt es aber - viertens - als Abhilfe einen Ölradiator.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
e.a.richter - 2012-10-29 15:03

Siehe auch:
Kap. 1: 1, 2, 3.

Kap. 2: 4, 5, 6.

Kap. 3: 7, 8, 9.

Kap. 4: 10

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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