DB-021 8 (Eine ältere Frau)

8

Eine ältere Frau leert gerade Asche in einen Koloniakübel. Kinderspielzeug liegt weit verstreut im Garten rund um das Haus, das Ludwig, neben sich Stefan und Lena, ansteuert. Eine hohe, eigentümlich verwachsene Silbertanne lehnt sich ans Dach und scharrt an der Traufe.

Aus der aufgehenden Tür wächst Julia, anders als auf den Fotos: nicht ein kurzhaariges, schwarzes Köpfchen mit deutlich langer, leicht schiefer Nase, sondern ein Schwall von glänzenden, mehr als schulterlangen Haaren; nicht ein schwarzer, unergründlicher Blick mit dem Widerschein der fotografierenden Lena, sondern ein vertraut erscheinendes Lächeln; kein weiter Hosenanzug, sondern ein enges, zartgeblümtes Kleid über ihrem von der Geburt ihrer Kinder sichtlich unberührt gebliebenen Körper.

Sofort schiebt sich ihre Tochter, die etwa achtjährige Nicole, vor sie und nimmt Stefan für sich in Beschlag, indem sie großspurig erklärt, ihr kleiner Bruder schlafe so fest, daß ihn selbst ein brüllender Tiger oder ein trompetender Elefant nicht aufwecken könne, und zerrt ihn danach ins Kinderzimmer, zu ihren Zeichnungen.

Auf der ersten sieht man Ludwig mit einem so großen Besen vor den Beinen, daß für die Füße kein Platz mehr geblieben ist. Wie der Vater haben auch die bedeutend kleinere Mutter und Nicole selbst einen kirschroten, wie einen Schnurrbart geschwungenen Mund und pompöse Apfelwangen. Dann werden Elefanten, Löwen, Bären hergezeigt, eine ganze Urwaldbelegschaft, alles auf bräunliches Knisterpapier mit spitzem, hartem Bleistift durchgepaust.

Damit auch von Stefan etwas zurückbleibt, fixiert ihn Nicole, mit Elternattributen versehen, auf ein großes Blatt Packpapier: essend, im Kampf mit riesigen Spaghetti, die ihm, für die Zunge unerreichbar, um den Kopf schwirren.

Vom sehnigen, klebrigen Körper des Mädchens auf seinem Schoß denkt sich Stefan hinaus in den anderen Raum, mitten hinein ins gedämpft herüberklingende Gelächter Julias: Da wiederholt er den Begrüßungsblick und hält ihm länger stand, als notwendig wäre für einen aufmerksamen, soeben eingeführten Gast; da weicht er nicht zurück, wenn sie an ihm vorbeistreift (wenn er das Anstreifgeräusch zu einem unüberhörbaren Rauschen verstärkt: Julia rauscht mit den Füßen, den Beinen, mit dem Kleid über ihren Beinen, mit ihren Brüsten, mit ihrem Hals, mit ihrem Kopf, mit ihren Augen, ihren Haaren rauscht Julia vorbei, und jeder Körperteil hat ein ihm eigentümliches Rauschen , nur für ihn, nur in dieser Sekunde unterscheidbar, geheime, nur für ihn bestimmte Botschaft); da dreht er seinen Kopf ihren Körperwendungen nach, in Erwartung eines Reflexes, der ihm den Ansatz eines Einverständnisses signalisiert.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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