DB-022 (8) (Nicoles Bildphantasie)

Nicoles Bildphantasie entpuppt sich als ein Vorgriff auf die Wirklichkeit. Draußen werden wirklich Spaghetti verteilt, und zwar vor der Suppe, eine sympathische Geste, die zeigt, daß weder Ludwig noch Julia bereit sind, ihr alltägliches Chaos unter den Tisch zu kehren, um dem Besuch aus dem nichtsozialistischen Ausland etwas vorzuspielen.

Dort, an ihrem Tisch, stellt sich Stefan wieder mit den Füßen auf den Boden, beobachtet scharf alle Handbewegungen, Körperdetails, nimmt alle Satz- und Wortfetzen dankbar in sich auf, ohne sich ins Gespräch einzumischen. Er wird auch nicht gefragt. Er läßt sich in einen Kampf mit den DDR-Nudeln verwickeln (er denkt in der Tat: DDR-Nudeln, DDR-Nudeln und DDR-Tomatenmark!), denn die DDR-Nudeln sind genauso pickig wie die Österreich-Nudeln (falls diese nicht in Wirklichkeit BRD-Nudeln oder irgendwelche EWG-Nudeln sind!).

Die DDR-Nudeln quellen. Stefan sticht und rollt und wendet und fischt. Die DDR-Nudeln rutschen. Stefan stopft und schlürft, er streicht mit der Zunge über die Zähne, um die DDR-Nudelreste schleunigst in seinen Schlund zu befördern und für den weiteren Nachschub zu sorgen. Als ihm bewußt wird, daß er im Nudelkampf untergeht, blickt er auf, erhascht einen belustigten Blick Lenas und schneidet eine zurückweisende Grimasse.

Zwischen Julia und Ludwig thront der große Topf, randvoll mit Tomatenmark, aus dem Nicole, die Situation schamlos ausnützend, unersättlich schöpft. Sie frißt, als hätte sie zwei Tage nichts zu essen gekriegt, stellt Ludwig zufrieden fest. Sie läßt sich aber davon nicht irritieren.

Auch der Suppe, die dünn und fast kalt ist, widmet sie sich mit ganzem Herzen. Erst als ein markerschütternder Schrei aus dem Kinderzimmer ertönt, stürzt sie hinaus, ohne sich ihre Tomaten-Hände abzuwischen, und erscheint gleich mit dem Kleinkind, dessen Tränen noch sichtbar sind, das die Zähne aber strahlend bleckt und die Augen zu einem Grinsen zusammenkneift.

Nachdem Nicole ihren Bruder geschwind aus dem Schlafsack geschält und ihm die nasse Windel gewechselt hat, entschließt sich Julia, die Nachspeise auf den Tisch zu stellen. Es ist ein Kuchen, der nicht so geworden ist, wie er hätte werden sollen. Er werde immer nur so, wie er eben werden könne, lacht Ludwig.

Uwe mischt sich mit Ballaballa, seinem Universalwort, ein und schiebt seine Finger durch den Schlitz im Strampelanzug unter die Windel, wovon ihn seine Schwester mit Pfui und Gack abhalten will, was Ludwig amüsiert zurückweist: Er soll ruhig seinen Pimmel angreifen, wenn er will.

Julia beschäftigt noch immer der Kuchen: Die Kirschen auf ihm seien aus Polen, sagt sie mit bedeutungsvollem Gesicht. Stefan faßt das als eine Aufforderung auf, endlich kräftig in die vor ihm liegende Schnitte hineinzubeißen. Julia blickt Stefan an, zum ersten Mal nur ihn, und Stefan schluckt tapfer und trinkt gleich Milch nach, um den penetranten Backpulvergeschmack wegzuschwemmen. Julias Kirschen, denkt er und würgt und schluckt. Julia lächelt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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