DB-043 18 (Eingegraben in der Finsternis des Bettes)

18

Eingegraben in der Finsternis des Bettes neben der unruhig schlafenden Lena, fällt es Stefan schwer, sich seine Verliebtheit auszutreiben mit vernünftigen Sätzen. Es ist, als leuchte ihm jemand mit einer winzigen Taschenlampe ins Auge, sodaß er gezwungen ist, immer dieselben Gedanken, Ängste und Wünsche zu haben.

Zuerst die so oft überschlafene Zärtlichkeitslust, das so oft im Kopf vorweggenommene Wühlen in den bekannten Körperhöhlen. Und jetzt dieses Schwanken zwischen alltäglicher Hoffnung und singulärer Hoffnungslosigkeit, zwischen Sinnlichkeit in kleinen Schritten und der amoralischen Apotheose einer unsinnigen Leidenschaft.

Stefan zieht seine kalten Füße an den Körper: Schwitzbad. Er setzt Julia und sich wieder ins Schwitzbad, betrachtet es als eine Art Vorausdeutung des Kommenden. Dabei kann es aber nur um die Vergegenwärtigung des Vergangenen gehen.

Seine alte Krankheit: Kaum hat er sich von den Menschen entfernt, beginnt er wie wild an ihnen zu arbeiten, sie zurechtzumodeln, sie einem Idealbild anzupassen.

Die Julia, die jetzt anstelle Lenas neben ihm liegt, ist eine synthetische Julia, die Lena in allem übertrifft. Er könnte sie zu einer Frau voller Schwächen, voller Laster machen: Sie bliebe trotzdem unweigerlich Gegenstand seiner Liebessehnsucht; er muß, stellt er fest, seinen Mut am Imaginären kühlen, das sekundenschnell unter der Oberfläche aufschimmert; er muß das Unmögliche glauben.

So wird er die Zeit zwingen, stillzustehen oder dahinzurasen, in beliebiger Richtung, mit beliebiger Geschwindigkeit. So wird er aus den Tagen steigen können wie aus einem Auto oder Omnibus. So wird er die Glückssekunde anhalten können, die schleichenden, öden, kümmerlichen Jahre zum Wirbelwind machen, der alles mitreißt.

Die Sonne wird durchbrechen, Schluß machen mit seiner schläfrigen Gleichgültigkeit. Endlich erscheint er als Zeitmaterialist, Zeitsurrealist, Zeitmechaniker, der die neuesten Errungenschaften jedem bekannt macht. Er besitzt das Telefon, mit dem er ohne Schwierigkeiten vom WEISSEN ZIMMER aus alle erreichen, mit allen sprechen kann.

IM WEISSEN ZIMMER selbst sprechen die Dinge: diese Wasseroberfläche, auf die unentwegt Regen fällt; diese glitzernden, kichernden Kugelflaschenköpfe, die, ohne Angst zu machen, ständig klingeln, während Stefan am Rand der Röhre zum Abgrund hockt, im Rucksack eine Bombe, die dieses WEISSE ZIMMER, diese komprimierte Sekunde des Glücks aller jetzt noch Schlafenden vernichten könnte.

Einen Augenblick glaubt er, daß er alles in die Luft sprengen müßte, um die Menschheit vorm Ende der Zeit, dem gesammelten Glück, zu bewahren. Dann erkennt er, daß er kein geborener Attentäter ist, und läßt die Bombe versinken.

Diese bemoosten Mauern, zerrissenen Tapeten. Diese dachlosen Pfeiler, wasserüberspülten, zersprungenen Kacheln. Diese leeren Fenster, vor denen sich die wüste Landschaft im süßesten Grün nur so lange ausbreitet, solange man sie nicht ins Auge faßt.

Davor bewahrt ihn das WEISSE TELEFON, mit dem er die Verbindung zwischen der schlafenden Julia - ob sie noch keucht unter der Last ihres Ludwig? - und der schlafenden Lena mit einem Knopfdruck herstellen kann.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Trackback URL:
http://earichter.twoday.net/stories/db-042-18-eingegraben-in-der-finsternis-des-bettes/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Beim Autor originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

Zur KPO hier.
Zur KPO hier.
e.a.richter - 2012-12-22 17:59
Zu Majakowskis „Schwitzbad“...
Zu Majakowskis „Schwitzbad“ hier und hier. Und...
e.a.richter - 2012-12-22 17:36
„In seinem satirischen...
„In seinem satirischen Theaterstück „Schwitzbad“...
e.a.richter - 2012-12-22 17:02
DB-052 21 (Aus meinen...
21 Aus meinen Selbstdarstellungen kennst du ja Stefans...
e.a.richter - 2012-12-22 16:52
DB-051 20 (Die Ehrlichstraße...
20 Die Ehrlichstraße ein Stück rauf, immer...
e.a.richter - 2012-12-21 20:33
DB-050 (20) (Ins neue...
Ins neue Jahr mit neuem Haar: Götz ist stolz auf...
e.a.richter - 2012-12-21 20:29
DB-049 20 (Die Ehrlichstraße...
20 Die Ehrlichstraße ein Stück rauf, immer...
e.a.richter - 2012-12-21 04:45
Erfreulich, das eine...
Erfreulich, das eine wie das andere. Das eine dauert...
e.a.richter - 2012-12-21 04:42
wegen der prosa schaue
ich wieder rein, herr richter. ich möchte jetzt...
SehnsuchtistmeineFarbe - 2012-12-21 02:03
Siehe auch: Kap. 1: 1,...
Siehe auch: Kap. 1: 1, 2, 3. Kap. 2: 4, 5, 6. Kap....
e.a.richter - 2012-12-19 21:11
DB-048 (19) (Natürlich...
Natürlich brennst du drauf, daß ich das...
e.a.richter - 2012-12-19 17:55
DB-047 (19) (Etwas in...
Etwas in mir denkt, daß in einem bestimmten Augenblick...
e.a.richter - 2012-12-18 19:48
DB-046 19 (Du wunderst...
19 Du wunderst dich sicher: Ich bin einfach in die...
e.a.richter - 2012-12-18 09:08
F-26 ZEHN JAHRE DANACH
Aus der Entfernung hin zu dir, näher und näher mit...
e.a.richter - 2012-12-17 03:10
Manchmal öffne ich...
Manchmal öffne ich meinen Mund, und du siehst nur...
Sturznest - 2012-12-15 15:43
Ganz ohne Beistrich...
Ganz ohne Beistrich...
Sturznest - 2012-12-15 15:41
Damals, ohne Beistrich,...
Damals, ohne Beistrich, ja! ;-)
e.a.richter - 2012-12-15 15:32
aus deiner hand, wächst...
aus deiner hand, wächst mein schwanz...also herr...
Sturznest - 2012-12-15 15:27
Im November erschienen
E. A. Richter Schreibzimmer 100 Gedichte Originalausgabe 160...
e.a.richter - 2012-12-15 09:21
F-25 KURZBIOGRAFIE
für Susanne Empfangen und aus- getragen im Namen...
e.a.richter - 2012-12-15 09:09

Free Text (2)

Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de http://www.wikio.de

Free Text (3)

Archiv

Dezember 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
14
16
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 706 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2012-12-23 02:32

Credits

vi knallgrau GmbH

powered by Antville powered by Helma


xml version of this page
xml version of this page (with comments)

twoday.net AGB


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Obachter
Stummfilmzeit
Wiener Blut
Zahl und Gesicht
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren