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Autorenbuch Alexander Graeff Viktor Bergers Warten – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Alexander Graeff

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Viktor Bergers Warten

Viktor Bergers Warten


Eintrag ohne Datum:

„Die Liebe kann dabei helfen, Emporzuführen.“


Pah! Eher führt sie mich hinab, die Liebe. Tief werde ich fallen, und das obgleich ich nie wirklich weit oben war. Ein armer Schlucker bin ich. Was man so Philosoph nennt. Ein Schreiber, der mit jedem Wort, das er schreibt, einen Bissen Nahrung zum Munde zu führen weiß. Direkt, ohne Vermittlung und ohne Besteck.

Jetzt liege ich in der Lache grüner Substanz und es geht zu Ende. Es ist nicht das Ende eines Lebens, sondern das Ende einer hochnäsigen Zeit.

Alle sprechen sie von Liebe. Nur einmal kam ich selbst in den Genuss dessen, worüber ich später nur zu schreiben imstande war. In Lissabon. Wir lagen nackt im Mietappartement und rauchten Zigarren. Die Hitze war unerträglich und dennoch hatten wir vier, fünf Mal Sex am Tag. An einem Montag fing alles an, sonntags ließen uns die Rauschgifte im Stich und wir näherten uns allmählich unseren Alltagen. Getrennten Alltagen. Für immer.

 

22. Oktober:

Mit zitternden Händen öffne ich den Postkasten, greife nach dem Brief und fahre rasch treppauf. Die Tür kracht unsanft in den Rahmen.

Ich betrachte das Schreiben: Ein hellbrauner Umschlag, länglich. Darauf allmögliche Stempel und eine Sechshundertjahre-Johannes-Gutenberg-Marke. Adressat: Viktor Berger. Seit vier Wochen warte ich auf diesen Brief! Das Gutachten meines Manuskriptes – über die Liebe.

Im Arbeitszimmer greife ich nach dem roten Papagei, der mir beim Öffnen meiner Post behilflich ist. Seine schwarze Schwanzfeder taucht tief ins Innere des Papiers ein, dann ziehe ich den Vogel langsam an der Oberkante des Briefes entlang; dort, wo der Speichel jenes Sachbearbeiters klebt, der über Annahme oder Ablehnung zu entscheiden hat. Eigenartiger Gedanke: So nah bin ich der körperlichen Emmanation dieses Mannes, so fern ist sein Gutachten. Ich jongliere mit zwei Fingern den Papierbogen aus dem Umschlag.

 

16. Oktober:

Kaspar Münsch sagte mal wieder: Fehler.

Kaspar Münsch kann nur dieses eine Wort sagen, und er sagt es zu unmöglichen Gelegenheiten. Für Kaspar Münsch sind sie möglich. Gestern begleitete er mich in den Supermarkt. Es ist schon oft vorgekommen, dass ich mich um Kaspar – ich will Kaspars Begabungen zurückhaltend nennen – ein wenig kümmere. Zwischen Lektüre- und Schreibphasen ist es mir eine willkommene Abwechslung, von Kaspar besucht zu werden. Trotz all der Behinderungen.

Gestern durfte Kaspar sogar den Einkaufswagen schieben, das vermittelte ihm ein Gefühl von Verantwortung über unser gemeinsames Vorhaben. Ich las ihm vor, was ich mir auf meinen Einkaufszettel gekritzelt hatte. Er schob den Wagen und ab und an zuckte es in seinen Fingern; meist dann, wenn er einen der genannten Artikel in den endlosen Regalreihen erkannte. Dennoch hielt er es nicht für erforderlich, den Artikel auch in den Wagen zu legen. Das musste ich tun.

Zwiebelsalami. Fehler.

Früchtequark. Fehler.

Margarine. Fehler.

Schnittbrot. Fehler.

Drei frische Croissants. Fehler.

Ein Liter Apfelsaft. Fehler.

Ein Stück Seife. Fehler.

Romantische Glückwunschkarte. Fehler.

Tageszeitung. Fehler.

Einsfünfzig Flaschenpfand. Fehler.

Tragetüte. Fehler.

Herz. Fehler.

 

23. Oktober:

Es sind eindeutig zu viele Fehler im Manuskript! Gleich auf Seite 9:

„Ficinos Arbeiten stehen in der Tradition des Neuplatonismus. Den größten Einfluss erlangte Ficino aufgrund der Veröffentlichung eines Kommentars zu Platons Symposion. Die Besonderheit lag in der für die damalige Zeit ungewöhnliche Thematisierung der platonischen Liebe. Nur durch Schönheit als Strebensziel der Liebenden könne eine grundlegende Erkenntnis zurückgewonnen werden: Die Erkenntnis, dass Gott im Menschen erweckt werden kann.“

Diese Erkenntnis ist ein Fehler. Gott kann nicht im Menschen erweckt werden, denn das hieße streng genommen, dass er im Menschen schliefe. Es gibt keinen solchen Weckdienst der Liebe, der Gott in der menschlichen Hülle aus dem Schlaf befördert. Gott ist keine Anlage! Gott ist das Resultat des Tuns, das Resultat der Liebe, die in wahrer Form reines Tun ist. Geliebter und Liebender werden in eben diesem Schaffensprozess erzeugt, wie alle Gottheiten, die man sich in entrückten Stunden erdachte. Falsch ist die Vorstellung, Gott sei immer schon im Menschen angelegt. Gott ist ein Produkt der Dichtung.

 

24. Oktober:

Ich

 

20. Oktober:

Ich kritzele rasch einige lose Gedanken auf den Beipackzettel meiner Arznei, die ich gegen meinen Bronchialhusten einnehmen muss. Es sind rohe Worte. Blass und doch unvermeidlich. Sie stehen Pate für meine Nervosität, für diese ganze Ungewissheit, die mich lähmt. Ich warte. Bin gezwungen dazu. Seit Wochen keine Antwort.

Ich zerknülle den Beipackzettel, werfe ihn auf den Küchentisch. Die Papierkugel rollt ein kleines Stück weiter, dann bleibt sie vor dem regenbogenfarbenen Ring liegen. Dieser Ring – so scheinbar unnütz – ist das Objekt, welches meine Situation bestens repräsentiert. Mehr noch: Es repräsentiert alle Situationen dieser Welt, dieses Universums, die mit Warten zu tun haben. Alles Warten vereint sich in diesem kleinen Plastikring.

Meine Gedanken beginnen sich zu drehen: die Arznei, der Wein, die Nervosität, das alles erzeugt ein neues Bild der Welt. Der Beipackzettel beginnt langsam zu knistern. Ich spüre die Verbindung zwischen ihm und dem Punkt auf meiner Stirn. Leicht beginnt er zu schaukeln, jetzt entwirrt er sich – ganz langsam. Er zeigt mir die Worte, die ich so hastig schrieb.

 

23. Oktober. Nachtrag:

Weiter geht es auf Seite 16, mit den Fehlern. Hier heißt es:

„Die schöpferische Eigenschaft des Mythos orientiert sich gerade nicht an der Überprüfbarkeit des philosophischen Logos, sondern erhält seine Eigenständigkeit durch eine gegebene, lebensweltliche Problematik, die mit der emotionalen Präsenz des Menschen zu tun haben scheint. Die Zusammenführung von Mythos und Logos durch den Eros führt daher zu einem alltäglichen Problem, dem wir uns alle konfrontiert fühlen: dem der Liebe.“

Dann ein nutzloser Absatz. Und weiter:

„In der Liebe zeigen sich zwar die grundlegenden Fragen nach der Metaphysik, die Überlegungen münden aber in eine weltliche Thematik, die vor allem nach individueller Nachvollziehbarkeit fragt.“

Die Annahme, Liebe sei ein weltliches Problem mag schon richtig sein. Doch die Liebe kann selbst niemals ein Problem sein. Das, was wir mit Problemen verbinden ist nicht die Liebe, sondern meist unsere Unfähigkeit, uns diesem metaphysischen Gebilde respektvoll zu nähern. In unserer Ohnmacht greifen wir zur romantischen Verklärung. Probleme macht nur das, was wir mit der Liebe verwechseln. Wenn es um Sex, um Partnerschaft oder um schale Liebesbekundungen geht, dann entstehen Probleme, und die bescheren wir uns selbst. Warum kommen mir solche Einfälle erst jetzt?

 

13. Oktober:

Wenn ich auf diesen Ring starre, sehe ich alles ganz, ich sehe eine Kugel. Und ich sehe die Zeit, die sich dehnt wie ein Gummiband, das über zwei Pfosten gespannt wurde, um eine glanzvolle Idee – ein Text über die Liebe – so weit wie es irgend möglich ist, in die Welt hinaus zu schleudern.

Ich sehe einen Vater, der vergeblich auf seine Tochter wartet. Ich sehe eine Tochter, die darauf wartet, dass ihr Vater den Fluss überquert. Ich sehe eine Straßenbahn, die sich ihren Weg in die Stadt fräst. Ich sehe Charon mit den Münzen. Eine Orangenernte. Die Poetologie der Welt. Ich sehe einen Gebrauchtwarenhändler, der auf Kundschaft wartet. Ich sehe eine junge Frau, die ungeduldig ihre Gier auf Fotografien stillt. Ich sehe Kopisten am Strand eines fernen Flusses. Ich sehe Theseus mit der Garnspindel. Einen Minotaurus. Die Kunst, die auf Anerkennung wartet. Ich sehe Kaspar Münsch, der auf sein zweites Wort wartet. Ich sehe eine Zunge, die auf Thallium wartet, den grünen Trieb. Ich sehe einen Mann, der gebeugt am Küchentisch letztlich auf sich selbst wartet. Ein Mann, nicht fähig zur Liebe.

Ich sehe alles direkt, ohne Vermittlung und ohne Besteck.

 

23. Oktober. Erneuter Nachtrag:

Auf Seite 34 schrieb ich:

„Bei Ficino tritt Eros als Dämon in Erscheinung, der ein Bindeglied zwischen Mensch und Gott darstellen soll. Ficino, und auch andere Renaissance-Philosophen knüpften dabei nicht nur an die platonische Idee des Gewissens an, die uns als genialischer Daimon begegnet, sondern wussten mit der Figur dieses Dämons auch äußerst leibliche Vorstellungen zu verbinden: Die Liebe als jener Dämon, der die Menschen versucht und zum Abstieg ins Animalische verlockt.“

Erzähl doch einem modernen Sophisten was von Dämonen! Die Sprache selbst ist Träger des Themas, insofern, dass sie im zeitgemäßen Gewand benutzt werden will. Längst setzt man nicht mehr auf die Wirkung der Form, wenn man spricht oder schreibt, längst will man der möglichst unverschleierten Kommunikationsbotschaft allein gerecht werden. Eine zu verquaste Sprache wirft Fragen auf, die sich heute keiner mehr stellen mag. So muss wohl auch der zuständige Sachbearbeiter gedacht haben. Sicher bin ich nicht. Und dennoch war das für ihn nur Ablehnung wert.

Kaspar trinkt ein Glas Milch während ich die Korrekturen studiere. Er wolle mir Gesellschaft leisten, machte er mir vorhin im Treppenhaus verständlich.

Es platzt aus mir heraus: Ich fluche auf meinen Text! Ich fluche auf die Liebe! Kaspar sagt: Fehler. Ob er mein Fluchen meint oder den Text, weiß ich nicht. Jetzt sagt er noch einmal: Fehler. Wahrscheinlich meint er beides. Die Liebe meint er nicht.

Kaspars Dämon schafft es, ihm immer nur dieses eine Wort zuzurufen, das er ungefiltert wiedergibt. Vielleicht ist es nicht Kaspar Münsch, der da so gewissenlos redet, sondern sein Gewissen selbst, das durch seinen großen Einfluss auf Kaspars Behinderung die Situation, die wir nur ungünstig nennen, ablehnt und auf eine bessere, triftigere wartet. Darum wurde meine Arbeit abgelehnt: Wem willst du heute was von Dämonen erzählen?

 

11. Oktober:

Unabhängig vom Gutachten werde ich, denke ich, wichtige Zitate aus meinem Manuskript herauslösen und sie nochmals – sei es zur Fehlerkontrolle, sei es zum genussvollen Wiederholen prägnanter Stellen – aufnotieren.

Die Idee ist gut. Das hätte ich vielleicht schon früher machen sollen, schon vor der Abgabe des Manuskriptes! Ich hoffe, dass ich die entscheidenden Fragmente meines Textes, meines Lebens, auch ohne Gutachten genießen kann. Irgendwie freue ich mich auf das Gutachten.

 

27. Oktober:

Ich schlucke Thallium, damit es in Magen und Darm wirkt. Achthundert Milligramm sollten ausreichen, sagt das Internet. Kaspar habe ich weggeschickt. Er sagte wieder: Fehler. Und dann – aber da war es schon zu spät –, wurde mir klar: Liebe zeigt das Unmögliche. Behinderungen machen es möglich.

 

Zerknitterter Beipackzettel:

Ein Brief kroch in die Venen und hinterließ dort kleine Spuren einer Nachricht von mir selbst:

Ich warte.

Ich warte auf den hellen Fetzen zwischen vier Ecken eingesperrt.

Ich warte auf die Nachricht, die alles erinnern wird.

Ich warte auf Ergebnisse, die ich kenne, aber nicht weiß.

Ich warte. Wollte lieben. Fand nur Text.

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