eingekreist - die Monatskolumne Mai 2011

Monatskolumne

Autor:
Christian Kreis
 

Monatskolumne

Hallescher Bildungsabend. Ein Mitläufer berichtet

Der Mann von der Alternativuniversität ergriff nun auch mal das Wort und er war im Gegensatz zu den anderen Diskussionsteilnehmern tatsächlich mit dem Thema vertraut. So konnte man sich immerhin darauf einigen, daß die Utopie Kritik an einer Gesellschaft und Gegenentwurf zu dieser Gesellschaft sei und immer ein Ausdruck vernunftgeleiteten Denkens. Eine bedauerliche Information für Frau Nostradamus Pau, die daraufhin eine DVD mit der Aufschrift „Avatar“ aus ihrem Beutel zog und sich für den Rest des Abends daran festhielt. Meine Freundin meinte sogar, sie habe die DVD mehrmals gestreichelt. Ich halte das für nicht übertrieben.
Die Künstlerin, die ursprünglich, zu DDR-Zeiten, eben nicht freie Kunst, sondern Design studiert hatte, das war jetzt allen bekannt, sprach über, ja worüber eigentlich, jedenfalls nicht über Utopie, schon mehr über die Kunst im allgemeinen, daß sie nämlich die Kunst als etwas verstehe, das die Grenzen und Regeln, was Kunst zu sein habe, durchbrechen könne oder auch nicht. Es sei also ihr Verständnis als Künstlerin, sich die Grenzen selber zu setzen oder zu durchbrechen oder auch nicht, so oder so ähnlich müsse man sich das vorstellen, wie sie das meine. Oder auch nicht, dachte ich. Allerdings meinte sie das, was sie sagte, für die Frau Nostradamus Pau viel zu leise, die nun lautstark kundtat, wie leise das gewesen sei: KÖNNEN SIE NICHT EIN BIßCHEN LAUTER SPRECHEN. DER ALTE MANN NEBEN MIR HÖRT SIE AUCH NICHT. DER MUß SCHON SEIN HÖRGERÄT LAUTER STELLEN. Der Mann neben ihr sagte, er habe doch gar kein Hörgerät. Was von Frau Nostradamus Pau einfach überhört wurde. Und die Künstlerin, um genauer zu sein, die Konzept- und Medienkünstlerin meinte mit zarter Stimme, sie wolle sich bemühen, etwas lauter zu sprechen.   

Und dann kam sie auf das zu sprechen, worauf sie schon die ganze Zeit zu sprechen kommen wollte: auf ihr Projekt. Es gehe dabei um Wolken, die sie mit Hilfe eines Wissenschaftlers vermesse, die sie fotografiere, mit dem Anspruch, von dem sie aber wisse, daß sie ihm nicht gerecht werden könne, die Wolkenveränderungen vorherzusagen. Es sei unmöglich, aber sie versuche es, mit dem Wissen, daß es unmöglich sei. Da hätten wir ja wieder den Bogen zur Utopie geschlagen, meldete sich Frau von Witz zurück. „Wir Künstler“, meinte Frau von Witz nun wiederholt, „wir Künstler erkennen am Ende meist immer die Grenzen unserer Entwürfe“. Ja, und auch sie versuche sich zuweilen darin, dem Wort künstlerisch gerecht zu werden. Doch wie Karl Kraus schon gesagt habe, sagte Frau von Witz, leider gehöre das Wort nicht gänzlich den Wortkünstlern. Es werde immer wieder von den Menschen benutzt und damit mißbraucht, weshalb man ihnen am liebsten das Sprechen verbieten möge, so Karl Kraus, so sie.
Zu diesem Zeitpunkt waren schon mindestens zwei Leute gegangen, das störte jedoch nicht weiter. Frau Dr. von Witz schlug mal wieder einen Bogen zu unvereinbaren Dingen, wie es uns Künstlern wohl zu eigen ist, und zwar den Bogen zu Sabine Trauders letztem Buch, dem man auch nicht nachsagen konnte, es hätte etwas mit Utopie zu tun.
Die Zeit sei ja wieder wie im Flug vergangen, stellte sie nun fest und floskelte sich noch bis zum Ende durch, an dem sie sich endlich und umfänglich über Satie äußern durfte, so daß ich sie gern an Karl Kraus erinnert hätte.
Als alle in Richtung Ausgang drängten, und Frau Dr. von Witz nicht verschweigen konnte, daß sie sogar noch bei Heidegger studiert habe (und daß sie eine Urgroßnichte von Satie sei, hätte mich jetzt auch nicht mehr gewundert), sprach mich die Frau Nostradamus Pau an, die Doreen Müller hieß, wie ich kurze Zeit später dem Zettel mit ihrer Telefonnummer entnahm. Ob ich denn gemerkt hätte, daß wir drei bärtigen Männer, damit meinte sie den Professor, den dreitagebärtigen Alternativuniversitätler und mich, daß wir drei ein magisches Dreieck gebildet hätten. Ich mußte das verneinen. Sie habe nämlich das HSP-Syndrom. Sie sei eine hypersensitive Persönlichkeit und spüre die Emotionen der anderen geradezu körperlich. Was ich gerade spürte, nahm sie anscheinend nicht wahr, ich lächelte höflich. Sie treffe sich öfter mit Gleichgesinnten, sagte sie und drückte mir völlig überraschend diesen Zettel in die Hand. Ihre Eltern hätten übrigens einen großen Garten, da könne man sich auch schön zum Grillen treffen. Ich dachte, auf diese Weise auch schon mal seine zukünftigen Schwiegereltern, und versuchte nun schnellstens in Richtung Toiletten zu verschwinden. Meine Freundin grinste nur.   

Danach, als wir uns in einer Kneipe mit Alkohol gegen das soeben Erlebte zur Wehr setzten, sagte Sabine Trauder: Für die Teilnahme an der Diskussion gab’s immerhin fünfzig Euro. Eigentlich könne sie Podiumsdiskussionen nicht ausstehen, noch dazu, wenn sie zu dem Thema nicht viel beizutragen habe. Fünfzig Euro hätte ich mir auch gern verdient, dachte ich, obwohl ich etwas beizutragen gehabt hätte. Frau von Witz hin oder her. Wenn man freiberuflich ist, nutzt man jede Verdienstmöglichkeit. Demnächst findet das 18. Hallesche Beatmungssymposion statt und bald darauf das Kolloquium der Positronenanihilierer.

 

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