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Essay
Poetische Fragen - Der Blick
Sehe ich, wenn was zu be-schreiben ist, fragt man sich. Habe ich den sogenannten poetischen Blick. Seh ich das, was alle sehen, und seh ich dazu noch irgendwas. Das irgendwie mir sichtbar ist. Und sehenswert, bemerkenswert, hervorhebenswert, ist da was zu besprechen, bedichten, mitzuteilen – anderen, die davon dann auch was haben könnten. Was sie sonst nicht gehabt hätten?, ohne meine spezielle Sicht. Sehe ich da was, das man sonst nicht so sieht, übersieht, in seinem Sichtfeld, „im Normalfall“ nicht erwähnenswert.
„Nichts ist selbstverständlich; wir haben uns nur an manches gewöhnt.“
Aus einem unveröffentlichten Notizbuch des Schülers Rainer Malkowski
Sieht der „poetische Blick“ einen poetischen (Eigen)Sinn in einem alltäglichen Ding, einer Sache, könnt auch ein Tun sein, Machen, Handeln, Erlebtes gar, Geschehenes – und kann ich das, was ich mehr, was ich anders sehe, so fassen, formen, darstellen, es erzählen, daß es andere auch sehen. Und Vergnügen haben, Gewinn, Bereicherung davon - kann sein, auch Erregung, Ärger, aber auch da ist Bewegung drin.
Die poetische Sicht kann sein: der naive Blick, der in seiner Unschuld noch offen aufnehmend ist, ohne gleich einsetzende Registrierungen, Klassifizierungen, Beurteilungen, Kostenfragen. Er kann der Blick des Kindes, eines Fremden sein oder des Außerirdischen, der uns, unsere gewohnte Umgebung und selbstverständlichen Regeln, Riten das erste Mal sieht. Also der Blick mit großem Abstand oder auch umgekehrt, man geht ganz nah ran, zoomt sich hin auf ein Ding, eine Sache, ein Tun …
Kinder sehen doch eh, wenn sie einschlafen sollen, im Tapetenmuster die lauernden Ungeheuer, machen ein Schritt über die kleine Tiere in der Maserung vom Holzboden. Sie schauen frisch und freundlich an, was wir für nicht wahr, wirklich oder für „immer schon da“ halten und weil zu gewohnt, nicht mehr sehen.
Ansichtssache
...
die Mülleimerbande! ruft das Kind als an der
Straße die Mülleimer stehn - ja, griffbereit
haben sie sich schwer brav hintereinander
angestellt - üble Typen, Türsteher
schwarzvermummte Gestalten, stimmt
oder alte Dreckskerle, ganz wie mans nimmt
Eine poetische Kompetenz, die bei Kindern noch ausgeprägt, naturgegeben da ist, später „vernünftigerweise“ sich zurückentwickelt, schwächer wird, bis sie ziemlich absterben kann – das hängt von den Lebensverhältnissen, Jobbedingungen, Druckverhältnissen ab, das Sichtfeld schränkt sich ein durch Stress, Sorgen, Business … Funktionierende Teile im kapitalistischen System müssen nicht mehr sehen, als produktiv für die Produktion zu sehen ist. Künstler kann man auch keine Kinder mehr sein lassen, die Zeit der Naiven ist vorbei, wenn sie erfolgreich und gewinnbringend im Kunstmarkt, Kunstgeschäft! sein sollen.
Ein Mehrwert also? wäre an einem Teil zu sehen, vom Leben, von der Welt – und Mehrwert heißt mehr als die Summe seiner Einzelteile, mehr als Worte sind mit ihren Bedeutungen in einem Gedicht - ein Schein, ein Bann, ein Fluch, der liegt, Glück und Verdammnis, Dunkelheit, Liebe, etwas, das fliegt. Man hörts schon, der Reim ist ein gern genommenes Instrument, brauchbar, einsetzbar in dem dichterischen Gewerbe: Ich schreibe, zeige her - was ich mehr (oder weniger) gesehen habe - auf der Bühne, auf dem Blatt, biete das verlockend an.
Der Reim macht es griffig, eingängig, ohrschlüpfrig, und er macht das Gedicht, den Streifen Text fester und (zauber)formelhaft, kompakt. So scheint das Geschriebene natürlich richtig, dichtig, gewichtig, weil wo sichs reimt, weniger der Zweifel keimt. Gefühlte Stimmigkeit. Und was sich reimt, scheint weniger gemacht als gefunden - eine Harmonie der sprachlichen Natur, ein sinfonisches Paar, das im unendlichen Raum der Wörter so gut wie vorherbestimmt, füreinander vorgesehen war. Paßt doch der Deckel auf den Topf, der Kopf auf den Körper, Frage und Antwort, Sang und Klang, vor und zurück, paßt!, erfüllt sich Sehnsucht, es kommt bestimmt: das Glück.
Also ein gutes Werkzeug in dem Job des Dichtens, wenn man seine Einsatzmöglichkeiten und Gefahren kennt, was nicht viel hilft, manchmal. Eine Eigendynamik hat die Reimerei, einmal damit angefangen, hört sichs schlecht wieder auf - treibt „es“ das Gedicht laut-kopulierend voran, findet sich wie magnetisch das nächste Passwort, riecht der Dichter schon, erspürt das nahe Trüffelwort.