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Erzählung
Wie bei Filmreisen hundert WaldundwiesenKrimis entstanden.
An langen Abenden in den Hoteld der Region wird erzählt. Was ist Seemanngarn gegen Drehmannsgarn überarbeiteter Kameraleute. Der Patron kommt, hört zu und erzählt die Kriminal-Geschichte vom Mörderwald. Auf seinen Ländereien geschah es. Den Allemands bleiben ihre Filme nicht nur Nabel der Welt; in die liebliche Paysage, in die schräg Bleilicht fällt, hält raue Wirklichkeit bösen Einzug:
Bois du Meurtre (Mörderwald. Aus dem Französischen von MC)
Ein Mädchen radelt die Landstraße lang, schwirrende Speichen, fliegende Haare wehen im Fahrtwind, sind der einzige lebende Glanz im Sonnenlicht, hellen die Öde der platten Landschaft nicht wesentlich auf, ohne Weinstöcke, ohne Sonnenblumenfelder, ohne Hügel. Die Häuser, kilometerweit auseinander, sind Steinbaracken, einmal links, einmal rechts, ihre Sockel wachsen unmittelbar aus dem Staub, in Kopfhöhe geschlossene Jalousien, selten eine offene Tür, keine Vorgärten, um die Höfe rosten Trecker, nisten Hühner in Autos mit hängenden Türen, zwischen zwei Blumenranken steht ein Käfig, hinter dem Maschendraht wuselt ein Frettchen, sein Schaben ist das fröhlichste Geräusch, vitalster Lebensfunke sind seine Augen, und die funkeln aus Furcht. Kein Hund bellt, hier ist nicht einmal der Hund verfroren, und wenn alle Stunden mal etwas vorbei tost, ist es ein Ferntransporter, wie eine Eisenbahn lang, die doppelten Hinterreifen zeigen Verachtung. In das ferne Verhallen des Fahrtlärms raschelt ein Windhauch, der die Blätter eines Wäldchens bewegt, sonst im platten Land kein Baum - kein Strauch, ein schweifender Blick fällt auf Waldboden. Hingeworfenes Fahrrad, zertretenes Fasergras, roter Turnschuh, weißer Stoff-Fetzen, Mädchenslip, zweifellos. Kahle Felder, Strünke, menschenleer, nein, von hinten ein schlappriger Stulphut, Strolchenjacke und O-Beine. Vogelscheuche im Feld, nein, die Figur bewegt sich, also ein Mann.
Zwei andere drehende Räder, zwei schlanke Beine, nackt bis zum Fahrradsattel hoch, über kurzen Hosen und blauer Bluse ein rundliches Mädchengesicht, unter dem Mittelscheitel gewölbte Stirn und darunter suchende Augen. Das kindliche Bubikopfmädchen senkt plötzlich beide Beine von den Tretern und stoppt das Fahrrad in der halbrunden Schneise im Baumhain. Hier hat sie sich mit der Freundin verabredet. Im Wäldchen, Petit Bois, macht sie sich später verständlich, denn sie kommt aus England, kann kaum Französisch.
Engelshaarblond wie ihre geschilderte Freundin sei das englische Mädchen vor drei Jahren ebenfalls gewesen. Soviel versteht sie, errät sie. Le meurtre, mehr versteht Mary nicht, als sie sich Mühe gibt, auf Französisch nach ihrer verschwundenen Freundin Cathy zu fragen. Erst den jungen Mann, der sich als Detectiv der Pariser Sureté ausgibt, der zwischen den Büschen herumstreicht, so weit fort von Paris, unglaubwürdig, mehr als verdächtig.
Das nächste Dorf, kilometerweit fort, wieder tritt Mary zäh in die Pedale, auf der Suche nach der Gendarmerie. Le Village Taste Corneille heißt mit Recht nach den krächzenden Raben, besteht aus fünf Steinbaracken, in einer hat der Zimmermann ein Loch gelassen, durch diese Tür hinkt ein Mann, dass die Perlenfäden klirren, sie und das Pernod-Schild vor der Tür und die Aschenbecher von Aperitive Raphael auf drei runden Tischen weisen das Haus als Café aus, an den zweiten Tisch setzt sich die abgehetzte Mary, am Nebentisch hockt eine Frau im blauen Kostüm vor einem Pernodglas. Der verdächtige Mann, angeblich aus Paris, und der Wirt, sie sprechen ganz schnell französisch, die Engländerin Mary hört nur "le meurtre".
Aber sie wollen ihr nichts übersetzen. Madame vom Nebentisch greift ein, als das Mädchen lange genug nach französischen Worten gesucht hat. >Le meurtre - that's murder. I know it.<
>Das heißt Mord, das weiß ich.< Okay, ja, so eine wie sie, so eine langbeinige langhaarige blonde Engländerin sei vor drei Jahren verschwunden. Drüben auf dem Friedhof liege sie. >Ach ja, warum ich Englisch versteht, sonst keiner hier? Aus Manchester bin ich<, stellt sich Madame vor. >Seit achtzehn Jahren hier, Lehrerin ausgerechnet für französische Literatur. Nein, niemand hat Ihre Freundin gesehen. Fahren Sie immer geradeaus, fragen Sie dann nach dem Gendarme, es ist eigentlich nicht weit von Bordeaux. Da wollte ich hin. Einer amour fou wegen bin ich hier hängen geblieben.<
Die Nähe der größten Städte sei fade, ehe sie aus längst aufgekauften Brachflächen in die Industriebaracken übergehe, dann noch ein sehr weiter Weg bis zu den Häfen und Altstadt-Kernen. Le meurtre - der Mord, hier sei es eben der einzige weit und breit gewesen, in einer ereignislosen Umgebung. Die meisten jüngeren Mädchen und Männer sind in die Stadt gegangen, die Alten bestellen das Feld rings um die unnütz gewordenen Höfe, die keiner mehr erben will. Öde Existenz kann Mordgedanken ausbrüten. Wie im platten Westfalen, wie in Holland, wie manchmal in England. Im Radius von hundert Kilometern im Schnitt um zersiedelte Ortskerne der Metropolen herum, international. Frankreich, solche Langweilerlandschaft ist auch dort. Überall.
Der Patron schweigt. Wie es ausgegangen sei, fragt der Kameramann, das sei doch kein richtiges Ende für eine Kriminalgeschichte. Die gibt es auch nur im Kino, bei Chabrol und im Roman von Simenon. Faule Ausrede, er selbst habe etwas zu verbergen, dieser Roué, so nennen die Franzosen einen alternden Lüstling. Wein, Weib, Gesang nicht. Das erste Mädchen sei die heimliche Geliebte des alten Knackers gewesen, flüstert die Patronne; keine Ahnung, die Englische sei die Freundin seines Sohnes gewesen. Auf jeden Fall eines natürlichen Todes gestorben, habe nämlich auf der Lichtung im kleinen Wäldchen zu lange in der Sonne gelegen; der Sohn habe sie nur gefunden.
Ach was, der sei nicht ganz dicht, der Patron vom Bistrot tippt sich an die Stirn, zumindest habe er sie sehr erschreckt. Ja, sicherlich, einen angeborenen Herzfehler habe die Obduktion nachgewiesen. Eigenartig bleibe, dass sich niemals irgendwelche Verwandte gemeldet hätten. Doch die zweite Engländerin sei wahrscheinlich auf der Suche nach der älteren Schwester gewesen; ihre Ähnlichkeit wie die von Zwillingen. Wie sich die Gesichter und die Zeichen gleichen, und dass die wenigen Vorbeifahrenden am Wäldchen Rast machten, hätte nichts zu sagen, oder nur einen Grund: es gebe sonst nichts in der öden Gegend, das sei entlang der Landstraße nach Bordeaux die einzige Möglichkeit, Schatten zu finden. Und die Lichtung das einzige Liebesnest weit und breit.
Aus der Serie: WaldundWiesenkrimis, Foto: Olaf Hauke