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Kurzprosa
Ein Hinterstirnfilm von Mechthild Curtius
Eine schmale Frau im Strickkostüm sitzt in der hintersten Reihe des Warteraums, der sich gegen zehn Uhr immer mehr füllt, mit Menschen und Stimmen vielsprachig, Alt und Jung, Hell und Dunkel. Dicht unter der Fensterreihe vor Bäumen und Regenfäden lauscht sie eher als dass sie schaut, Kopf wie ein Vogel vorgesteckt und leicht seitwärts gelegt, wendet sich zu mir, als ich mich neben sie setze. Sind Sie bald dran. Ist es schlimm? Hier meine Idiosynkrasie gegen Krankheits-Monologe zu üben, wäre ohne Funktion, auch ist das Augenübel von den Därmen entfernt, stehen die Augen weit darüber. Sie hebt den Kopf höher und dreht ihn mir vollends zu, der Blick mit der etwas trüben graugrünen Iris ist tastend, ein wenig leer. Sie erzählt von dreizehn Operationen, Glaukom- und Macula- Degenerations- und ..... Rückblickend gleitet sie in die Kindheitsgeschichte ererbter Kurzsichtigkeit, roter Faden das Auge. Da bemerke ich in der Aussprache sympathische Töne, ein wenig Graz und ... vielleicht Slowenien, irgendwo im ehemaligen Europa der Kaiserlich & Königlichen Habsburger Monarchie, die ich von meinen Lieblingsdichtern zu kennen meine, Robert Musil, Joseph Roth, Franz Kafka und den anderen, die anschauliche Sprache, die Konjunktive meiner Lieblinge, Wien, vielleicht ..... Ungarn. Sie bestätigt verwundert. Dicht hinter der Grenze haben sie gewohnt, Vater und Großvater hatten eine Buchhandlung, Bücher in vielen Sprachen, alte braune Kirschholzregale bis unter die Stuckdecke, von Zigarrenrauch vergilbt waren die Vorhänge, in Renaissanceschranken hinter Glasscheiben die kostbaren Bände. Das Mädchen mit Seidenkokarden am Ende der langen braunen Zöpfe kletterte die Leiter hoch und zog die Bücher erst der Farben und der Bilder wegen heraus, später auf der Suche nach Reizwörtern, sie lernte lesen, sammelte Buchstaben, Wörter und Zeichen in vielen Sprachen.
Ehe ich weiter meinen Hinterstirnfilm spinne, werde ich in die graue Februar-Gegenwart zur Dame in Grau gehen. Ich frage sie aus, das alte Spiel, das ich von Elias Canetti kenne, sonst vom keinem, Freude macht es dem Fragenden und den Befragten, gern sprechen fast alle von sich. Jung kam Frau Ligeti, nicht verwandt mit György Ligeti, dem Komponisten, aus Ungarn nach Süddeutschland, nach dem Tod des Gatten hat sie das Haus im Ries verkauft, ist zu Sohn und Enkeln nach Gelnhausen gezogen, war in Nördlingen Reisekauffrau und in Gelnhausen Schulsekretärin, reckt mir ihr Gesicht entgegen, die blicklosen Augen zucken, gerät ins Fabulieren, geübte Rede, Erzählbegabung, hörbar, seit der Kindheit lesende Person aus belesener Familie. Wie eine Gestalt aus den Romanen von Joseph Roth, Hermann Broch, Heimito von Doderer, Robert Musil, Franz Kafka, Adalbert Stifter, Stefan Zweig, Arthur Schnitzler, Herzmanowsky -Orlando, Elias Canetti, Ernst Weiß, Gustav Meyrink ... dahin bugsiert mein Gehirn die Gestalt - ein wenig zum Prager Golem, weiter nach Osten auf Transsylvanien zu, Heimat der Vampire. Tragik ist um sie, jammerfrei nüchtern schildert sie, sorgfältig sucht sie nach den richtigen Begriffen für ihre nicht augenblicklichen Wahrnehmungen: "Sehen Sie, ich erkenne Sie an Ihrer funkelnden grünen oder blauen Brosche unter einem weißen Fleck, vielleicht ihr Gesicht, das vermutlich schmal ist, mir ist es wie ein Schemen." In der Tat, vergleichend ihr Schildern - seit das so seltsam mit den eigenen Augen ist, verschleiert, Brille wie Milchglas, sind die Passanten auf der anderen Straßenseite Gespenster in Weißgrau, erkenne ich Bekannte an den Bewegungen: wie sie sich vorbeugt, das muss die Schauspielerin Regine sein. Und so leicht wie ein Wiedehopf hüpfen kann nur Herr Ohneselg vom Weinladen. Noch hat sie keine Erinnerung an meine Gestalt, meine Gesten, so geht Frau Ligeti mit erhobenem Kurzhaarkopf an mir vorbei, in den verschiedenen Gängen, vor und nach einer Reihe von Untersuchungen und Tests. Wildes Assoziieren, wie finde ich den roten Faden zurück, in der Zeit ihrer vermutlich sechzig Lebensjahre zurück in ihre ungarische Kindheit. Und im Raum der Universitäts-Augenklinik aus den Arzträumen hin zum Wartezimmer voller Patienten, manche mit einem oder beiden verbundenen Augen, wo sich Frau Ligeti am Kaffee-Automaten zu schaffen macht und ohne Getue meine Hilfe annimmt. Wir sitzen dann wieder in der hintersten Reihe am Fenster, trinken den Kaffee, sie sieht geradeaus: "Sehen Sie, diese blinkende Kette in einem breiten dunklen Feld ... was ist das?" - " Wirklich eine Kette, sehr protzig, auf einer braunen Jacke. Das blitzt mal hier auf und mal da." Sie scheint den fetten Mann mit dem öligen Schwarzhaar zu meinen, den mit dem hängenden Schnauzbart. Ich beobachte sie von der Seite, die Frau in lauter Grau, Wollkostüm, drei Taschen und Kurzhaar - die Augen sind goldbraun, wenn sie selbst sie auch straßenköterbraun nennt, und wie sind Ihre, das kann ich nicht sehen. Da nenne ich meine in der gleichen Ironie entenschietgrün. Goldbraun, edelsteingrün. Das sagen die anderen. Was mag an ihren dreizehnmal operierten Augäpfeln anders sein, wie und was mag sie erkennen? Allein ist sie hier und findet sich zurecht. "Mehr recht als schlecht", lächelt sie. "Doch, doch ich bin ein störrischer stolzer Mensch, muss selbständig sein. Fahre auch U-Bahn ohne Begleitung."
"Wie können Sie sich allein in Frankfurt orientieren?" Ich ermutige sie zum Schildern und am Ende bleibt die Faszination vom anderen eigenartigen Wahrnehmen. Wäre sie eine Dichterin, würde sie anders als die anderen Klarsichtigen schildern, zwangsläufig. Hat nicht Annette von Droste-Hülshoff alle Tautropfen vergrößert gesehen, wie unter einer Lupe, sind deren anderen Augen zumindest auch eine der rätselhaften Bedingungen für ihre präzise Dichtung. Augenklinik-Patienten könnten der jungen Dichterin Droste mit deren Augen folgen, ihre Poesie begreifen, bestätigen: Was da ferne liegt, sehe sie wie hinter Nebel, haargenau Details dicht vor Augen. Infusionstiere in Wassertropfen könne sie sehen. "Inmitten starrt ein dunkler Fleck / Vom Riesenauge die Pupille".