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Kurzprosa
Ein Hinterstirnfilm von Mechthild Curtius
Gemeinsam auf die weite Reise gehen, von Frankfurt nach Westfalen und von dort weiter nach Osten und Süden. Hin und her in den Jahrhunderten und am Ende verharren: Als Frau Ligeti ein Mädchen in Ungarn war, vor den fünfmeterhohen Regalen in des Vaters Buchhandlung, klettert sie die Leitern hoch und hinunter, nur wenige Kinderjahre, dann muss die Familie fort, gelangt zuerst an einen österreichischen, nachher italienischen Ort. "In der Schule nahe Perugia wär es nicht schwer, wenn die Langeweile nicht wär. Lesen zu können, ist in der ersten Klasse der Volkschule nicht gut." Umso mehr wundern sich die Eltern, als das überkluge Mädchen nicht mehr recht mitkommt. Erst der übernächste Lehrer im Vorort von Perugia, der vierzig Schüler in einer Art von umbrischer Zwergschule betreut, bemerkt das dauernde Zwinkern und Blinkern und das Augenreiben der Fremden, die so leicht italienisch gelernt hat, erzählt lebhaft, redet mit Händen und Füßen, und das überdeckt manch schiefe Wortendung, ihr R rollt sie ein bisschen anders. Was macht das, sie spricht so, dass auch die wildesten Ragazzi aufhören, mit Papierkugeln zu werfen und zuhören, wenn sie blutrünstige Geschichten erfindet von schwarzen Soldaten, die sie und ihr ganzes Haus überfallen, am Ende liegen Großvater, Großonkel, Vetter und kleiner Bruder blutüberströmt in den Zimmern, alle Bücher zerfetzt und verdreckt, Möbel verwüstet, alles aus Glas und aus Silber ist fort, fast wäre sie auf den Onkel gefallen, als sie über einen der zertrümmerten Stühle stolpert. Sie sagt das alles mit immer fremder werdender Sprache, die hellhörigeren der Schüler drehen sie vorsichtig zu ihr um, da ist ihr Gesicht wie die Steinmasken vom Campanile an der Piazza. Ein Engel geht durch den Raum, sagt der Lehrer, und das heißt "Totenstille", sie schüttelt sich, er besinnt sich auf seine Pädagogenpflicht, diese glücklicheren umbrischen Kinder nicht durch Kriegs-Erinnerungen der kleinen Ungarin zu verstören, die müssen Horrorgeschichten nicht hören. Und gerade da erkennt er, dass ihr Blick, als sie aus dem Alptraum erwacht, nie ganz klar wird. Tastend wendet Katalin sich ihm und der Tafel zu. So ist das gekommen, dass der Lehrer sie in die erste Reihe setzt, nachher mit dem Nachbarn vom Weingut, als er seine Fässer in die Stadt befördert, auf dem Eselkarren mitfährt zum Studienfreund, Augenarzt in Perugia, und dass sie ihre erste Brille bekommt. Das Leben in Europa ist friedlicher geworden. Mutter, Bruder, Katalin und einen neue Schwester zogen nach Nördlingen im Ries und weiter, immer dem Beruf des Vaters nach. Er hat Brücken gebaut, die Mutter Hemden und Kleider für eine schwäbische Fabrik genäht, zuhause, bis auch ihre Augen nicht mehr den Faden sehen konnte, den zog dann die Tochter in die Nadel für sie, hielt auch die Stoffe beim Zuschneiden. Das Gefühl der weichen Stoffe, ihr Geruch nach neuer Seide und Wolle hat sie an Wiesen und Tiere erinnert und ein bisschen an etwas, das sie nicht weiß. Zuletzt wird es immer am schönsten, wenn die Mutter die silberne Dose mit den vielen Knöpfen auf die schwere Anker-Nähmaschine stellt. Aneinander klappern die Knöpfe, wenn sie mit beiden Händen darin suchen und wühlen, und die Mutter hat Knopfmärchen erzählt, bei dem großen goldbraunen den vom magyarischen Reiter, auf seinem Tuchmantel mit den vielen Posamenten sind solche Knöpfe gewesen, und einer ihrer Ahnen hat eine kleine Manufaktur für Uniformen gehabt, Posamenten- schneider, ein schöner stattlicher Schnurrbart-Kavalier sei er gewesen, ein Weiberheld zum Kummer der Ururgrossmutter. Und die kleinen Perlmuttknöpfe erzählen vom Innenleben der Muscheln, die am Schwarzmeerstrand liegen, aber das ist wieder woanders, und natürlich hat das auch die Mutter erzählt, als sie zwölf Knöpfe an ein blaues Kinderkleid genäht hat und das Kleidchen über den Schultern gesmokt hat, das mochte sie am liebsten, auch Katalin trug solche Kleider, wie eine Puppe leicht und hell, aber sie wollte wie die anderen Kindern Schottenröcke und Nickipullover haben, dazu um den Hals ein Nickituch. Die Zöpfe ab und Bubikopf, altmodisch die Mutter mit ihren Nonnenkleidern, aber wenn sie die dünne Nadel durch den Stoff geführt und regelmäßig zusammengezogen und mit drei Stichen fixiert hat, so dass Rhomben entstanden, Kuhlen und Hügel oder Wellen und Dellen, das mochte sie gern. Nie ist es so schön zwischen Katalin und der Mutter gewesen. Und das ist auch schon daheim als sie klein war, und dann ist es ganz laut geworden, brüllend, Männer brüllen, sind schwarz, alles wird schwarz vor Augen und da hilft keine Brille.
© Curtius & Hauke. Wörter Curtius % Bilder Hauke. Bei Texte & Bilder
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