Ist Lyrik peinlich?

Essay

Autor:
Christa Wißkirchen
 

Essay

Ist Lyrik peinlich?

Zudem nimmt der Lyriker sich wichtig. Das tun weidlich auch andere, aber er tut es ausdrücklich. (Antonio im Tasso: "Es ist wohl angenehm, sich mit sich selbst / beschäftgen, wenn es nur so nützlich wäre.") Zugleich leistet er eine Distanz nicht nur zu seiner Umgebung, sondern auch zu sich selber, eine Selbstausbeutung und Selbstbeschädigung, die anderen nicht in den Sinn käme. Er will aus seinen Erfahrungen etwas machen, und hat daher die Tendenz, sie zu seinem Material zu machen. Gehört sich das?
Jemand hat eine ganze Nacht nicht geschlafen. Schrecklich! Nervig! Nie wieder! Und fertig. Die Droste aber macht ein unsterbliches Gedicht daraus, vermutlich nicht ohne Erlebnisse aus anderen Nächten einzuarbeiten, egal, die Sache muss nicht protokollgetreu, sondern rund und überzeugend und damit wahr werden. Am Getränkemarkt parken wir gelegentlich, ohne uns über ihn zu äußern. Ein Zeitgenosse aber baut das Wort "getränkemarkt" in ein Gedicht, wo es als kleiner Sprachstein nun für immer sitzt. Ein anderer bedient sich bei der Bibel, ein weiterer bei Rilke, und damit machen sie weiter. Ja, ist denn das erlaubt jenseits der Insel der Kulturschaffenden, bei denen anything goes?

Was Lyriker tun, wird im bürgerlichen Gespräch nicht erwähnt, weil es im Grunde unanständig und daher peinlich ist. Unanständig? Ganz recht. Unanständig und schamlos wie Kunst überhaupt, die nur verpackt in Rituale angefasst werden kann. Das hat sie mit der Sexualität ("Sexualität" - eins der trockensten Verpackungswörter) und mit der Religion gemeinsam. Man spricht auch bei der Geburtstagsparty, der Zeugniskonferenz, der Ausschuss-Sitzung nicht plötzlich von Gott. Wieso also von Lyrik? Da könnte man ebensogut außerhalb der dafür vorgesehenen Ghettos anfangen zu singen oder zu tanzen.

Vielleicht stellt man sich die Kommunikation des Dichters mit seinen Kunden am besten so vor: Einsam braut er in seinem Keller-Labor einen scharfen, aromatischen Sud, kommt bei Nacht und Nebel hervor und füllt etwas davon in außerhalb der Häuser bereitstehende Näpfe, woraus dann später, ebenso heimlich und ungesehen, seine Mitmenschen sich bedienen.
Alles andere wäre peinlich.
 

Originalbeitrag

Der Lyriker - Collage von Frank Milautzcki

Collage: Frank Milautzcki

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