Ist Lyrik peinlich?

Essay

Autor:
Christa Wißkirchen
 

Essay

Ist Lyrik peinlich?

Nein. Nicht für Lyriker, Herausgeber von Lyrikanthologien, Literaturkritiker, Besucher und Mitarbeiter von Literaturhäusern, Veranstalter von Literaturfestivals und Schreibseminaren, Deutschlehrer, Herausgeber von Schulbüchern, Kulturamtsleiter, Germanisten, Romanisten, Anglisten, Gestalter von Apothekenkalendern und Kinderdorf- Jahresheften...
Also für fast alle Menschen. Denken die Obenerwähnten vermutlich.
Zwar gebe es einen gewissen (zu vernachlässigenden) kulturfernen Bevölkerungsanteil von RTL-Glotzern und Heimwerkern. Und, ja, Literatur, speziell Lyrik sei schon immer etwas für Wenige gewesen. Solange sie aber unter sich bleiben, halten sie sich dennoch für die meisten.
Das ist ein großer Irrtum.

Es gibt die überwältigende Mehrheit von ehrenwerten, gestandenen, wahlberechtigten Mitbürgern, in deren geistigem Kosmos Gedichte schlicht nicht vorkommen. "Lyrik" ist dort höchstens ein Schimpfwort für blumige Umschreibung harter Tatsachen in Politikerreden.
Man besuche aber auch einmal eine nette, aufgeschlossene Familie, keineswegs jene gern gescholtenen DSDS-Banausen, sondern: Hochschulstudium, begründete Urteile, Sinn für Zusammenhänge, Antennen für menschliche Problemfälle, praktische und emotionale Intelligenz - aber Lyrik wäre in ihrem Gesprächs-Ambiente deplaciert. Es gibt sie, aber niemand würde von ihr Gebrauch machen durch Lesen, Zitieren, Diskutieren. Es fehlt nichts, wenn sie nicht anwesend ist. Und so erwähnt man besser nicht, dass man selber welche verfertigt, um nicht die Toleranz der Gastgeber zu belasten und in ein höflich-watteartiges Gesprächs-Nichts zu geraten. Wo die Lyrik nicht fehlt, so fängt man betreten an zu vermuten, fehlt den Leuten etwas anderes. Es fehlt wohl ein Defizit.

Der alte Bürger-Verdacht gegen die Künstler, seit Platons Verdikt über die Lügen der Dichter so vielfach hin und her gewendet, Goethe hat ihn in seinem Tasso gestaltet, Heine ihn gegen sich selbst gerichtet, Thomas Mann ihn durchdekliniert - wirkt er hier noch immer? Man täte der netten Familie Unrecht, wenn man ihr den ganzen Ballast solcher Künstler-Fragen anhängen würde: ob der Dichter ein eitles, selbstbezogenes Wesen sei, ob er sich als Welt-Sprachrohr fühlen dürfe oder nur ein fleißiger Tüftler sei, ob er die schlimme Welt zu verklären suche, ob er alles ins Ästhetische und damit in den Unernst ziehe, ob er überhaupt nach Auschwitz noch... Das wären eher fernliegende Themen.
Es gibt aber einen atmosphärischen Widerstand, den die Lyrik offenbar hervorruft. Sie passt stilistisch nicht. Warum nicht?
Eine Wohnstätte, speziell ein Familientisch mit seinen Gesprächen ist eine garantiert lyrikfreie Zone, auch wenn an der Wand Bücherregale stehen. Dort herrscht das Banalitätsgebot. Es gibt Wichtiges, es gibt Komisches, Interessantes, Ärgerliches - aber alles ist schlank und cool. Lyrik, so ist zu befürchten, würde den Dingen gefühlsschwere Bäuche anhängen, sich über Gebühr mäandernd mit ihnen aufhalten, den raschen Menschenverstand quengelnd durchkreuzen. Auch die Kulturdezernentin zitiert zuhause keine Mörike-Verse ("O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe"), der Deutschlehrer beim Abendessen keine Zeile von Thomas Kling ("bei vorfahrendm wahrschauer:/ geflößt, ein stygisches runter- / containert..."). Warum nicht?

Das Gedicht ist doch längst nicht mehr inhaltlich oder sprachlich normiert, alles ist ihm möglich. Es kann frech, nachdenklich, feierlich, rätselhaft, witzig und vieles mehr sein. Dennoch ist es immer "Hoher Ton", so rotzig es sich geben mag, ähnlich wie eine Geige bei den unterschiedlichsten Stücken immer noch nach Geige klingt, eine Orgel nach Orgel. Möglicherweise ist es der Schauder vor einer vermuteten puddingartigen Weichlichkeit, was Leute in Abstand hält. So wie es der Generaldirektor Stürzli in Thomas Manns Felix Krull ausdrückt, als sein Stellenanwärter ein französisches Gedicht zu rezitieren anhebt:
"Hören Sie auf!" unterbrach er mein sturzbachgleiches Geplapper. "Hören Sie sofort auf  mit der Poesie! Ich kann keine Poesie vertragen, sie kehrt mir den Magen um."

Die Anstößigkeit des Gedichts liegt darüberhinaus in seinem Verhältnis zur Sprache selber und zu den Wahrnehmungen seines Autors. Das bürgerliche Gespräch stellt manches in Frage, aber nicht seine eigene Sprechhaltung. Es berichtet von den verschiedensten Wahrnehmungen, aber es macht nicht die eigene Wahrnehmung zum Thema, und das auch noch auf eine zwielichtige, ergebnislose Art. Es benennt Dinge so - und nicht mutwillig ganz anders. Es dreht sich zwar manchmal im Kreise, möchte aber doch zum Schluss kommen und nicht an einem scheinbar unwichtigen Detail hängenbleiben, es umschnüffeln und es in verzerrter Proportion zu einer Hauptsache machen. Bei einem stummen Objekt der Bildenden Kunst erträgt man das besser.

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