"Es werden Akzente gesetzt, aber wirklich Neues sehe ich nicht" - Axel Kutsch im Interview mit Gerrit Wustmann
Es wird wenig Lyrik gelesen, aber viel Lyrik geschrieben. Wenn jeder Lyriker pro Jahr einige Bände kaufen würde, sähen vermutlich auch die Verkaufszahlen besser aus. Die Öffentlichkeit nimmt eher Slampoetry-Veranstaltungen wahr, die aber in erster Linie der einfachen Unterhaltung dienen. In anderen Ländern, beispielsweise in Südamerika oder im arabischen Raum sieht das anders aus. Auch in Diktaturen genießt die Dichtung eine ungleich höhere Aufmerksamkeit, nicht zuletzt weil die Literatur von den dortigen Machthabern als Gefahr...
Alter Markt
Jedesmal, wenn ich in Bernburg bin, gehen wir essen in den Alten Markt, und jedesmal läuft dort diese extrem langsame Blasmusik, die bei mir sofort eine Blasenschwäche auslöst, sodaß ich ständig aufs Klo rennen muß, bis meine Mutter sagt, ob es nicht gut wäre, wenn ich mal zum Urologen ginge, und ich am liebsten in den Gastraum brüllen will: Nein, ich muß nicht zum Urologen, es reicht aus, mal nicht in den Alten Markt zu gehen. Eine schnippische Kellnerin, in Phantasietracht, mit Überbiß fragt dann...
Wo bleibt die Zeit?
Alte oder ältere Menschen können im Rückblick auf ihr Leben mit Walther von der Vogelweide (übersetzt von Peter Wapnewski) klagen: „Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!“ - (Oweh wohin entschwanden alle meine Jahre! War mein Leben ein Traum, oder ist es Wirklichkeit? Was immer ich glaubte, es sei - war all das etwas?) Ohne dass man in eine Walther-Exegese eintreten müsste, liegt der Sinn der Frage auf der Hand. Hier klagt jemand über die Nichtigkeit des Lebens, ganz im Sinn des alten Kohelet, der diese Nichtigkeit des Irdischen...
Ist der „Jedermann“ ein schlechtes Stück?
„Jedermann!“ hallt es schaurig über den Salzburger Domplatz – und die säkularisierte Freizeitgesellschaft holt sich wieder einmal ihren Ablass für das Verdrängen von Krankheit, Not und Sterben. So charakterisierte vor Jahren schon der Theaterpublizist Andres Müry die Entwicklung von Hofmannsthals Stück zu einem „Spektakel des Todes“, das vor allem ein tourismusrelevantes Ritual geworden sei.Dies ist allerdings noch keine Kritik an dem altehrwürdigen Stück selber. Die traut sich dagegen Gerhard Stadelmeier zum wiederholten Mal in der FAZ...
Geschenk für Peter
Vierzig Jahre Peter und kein Ende in Sicht. Zu seinem Dreißigsten habe ich gedacht, wenn sich Peter weiterhin von Spiegelei, Bier und Büchsenfisch ernährt wird das nichts mit dem Vierzigsten. Wir standen damals am Steg, einen Haufen Gäste dazu, die Jungs (mittlerweile auch schon in die Jahre gekommen) mit Gitarre, und ich schenkte ihm einen Aschenbecher, den ich kurz zuvor im Bolldorf geklaut hatte. Ein praktisches und obendrein preiswertes Geschenk, das dem Rauchen dient und Peters Leben nicht unbedingt länger als nötig währen läßt...
Von Einsiedlern, die eigentlich gar keine sind - über 60 Jahre Eremiten-Presse Düsseldorf
Herbert Kästner hatte 1993 in einer informativen Miszelle in den Marginalien über eine Veranstaltung des Leipziger Bibliophilenabends mit Friedolin Reske von der Eremiten-Presse Düsseldorf berichtet. Die reich illustrierte Festschrift Vier Jahrzehnte Eremiten-Presse lag damals bereits vor. Inzwischen hat der Verlag ein weiteres Zehnerjubiläum – den halben Hunderter – feiern können. Nun ist das sechste Jahrzehnt Eremiten-Presse heran, doch leider wieder ohne Festschrift. Es fehlt dafür, wie überall, das – wichtigste...
Erhebe dich, Genossin meiner Schmach - ein Bayreuther Abend mit Schwan und Nachen
In Bayreuth war ich noch nie. Da wäre ich wohl auch nie hingekommen, wenn mein Sohn nicht diesen Sommer da arbeiten würde. Also nicht irgendwo in Bayreuth, sondern bei den Festspielen, ohne die wohl kaum jemand Bayreuth kennen würde. In Maxens von den beiden Festspielleiterinnen unterschriebenen Vertrag steckte je eine Karte für die sieben Generalproben. Eine davon bekam ich. Und der Zufall wollte es, dass mir die Karte für die diesjährige Neuinszenierung „Lohengrin“ zufiel. So kam ich auf den Grünen Hügel..
Eine Kirche, die summt - der 9. Klangwechsel beim John-Cage-Projekt in Halberstadt
Als Rainer O. Neugebauer von der John-Cage-Orgel-Stiftung die über dreihundert Besucher des diesjährigen Klangwechsels am 5. Juli begrüßt und eine Klangtafel, eine schlichte Gedenktafel, für einen verstorbenen Mitinitiator des (seit 2001 in Aufführung!)„längsten Musikstücks der Welt“ enthüllt, möchte man ausrufen: „Jetzt macht doch mal den Ton leiser!“ Diesen Ton aus den immer noch ersten Takten – aber Takte gibt es eigentlich nicht – aus John Cages Orgelwerk „Organ²/ASLSP“ (As Slow as Possible)...
Das Wort zündet eine Fackel an - Orientalische Einheit von Dichtung und Musik in der Kunst des Mugham
Seit der aserbaidschanische Sänger Alim Qasimov mit seiner "magischen Stimme" im Jahr 1999 den prestigeträchtigen Internationalen UNESCO Musikpreis, einen der international renommiertesten Musikpreise, verliehen bekam - Preisträger vor ihm waren Dmitri Shostakovich, Leonard Bernstein oder Ravi Shankar -, seither ist auch die jahrhundertealte orientalische Kunst des Mugham wieder mehr ins Blickfeld der interessierten Öffentlichkeit getreten. Mugham ist die höchst komplexe Musikdichtung des Kaukasus...
Ist Lyrik peinlich?
Nein. Nicht für Lyriker, Herausgeber von Lyrikanthologien, Literaturkritiker, Besucher und Mitarbeiter von Literaturhäusern, Veranstalter von Literaturfestivals und Schreibseminaren, Deutschlehrer, Herausgeber von Schulbüchern, Kulturamtsleiter, Germanisten, Romanisten, Anglisten, Gestalter von Apothekenkalendern und Kinderdorf- Jahresheften... Also für fast alle Menschen. Denken die Obenerwähnten vermutlich. Zwar gebe es einen gewissen (zu vernachlässigenden) kulturfernen Bevölkerungsanteil...
Die Lyrik Roberto Blancos
Als Lyriker ist man allgemein bekannt (und wird in Sippenhaft genommen) dafür, den Unterhaltungscharakter einer Veranstaltung stark einzuschränken. Deshalb war ich auch nicht zuerst gefragt worden, sondern der Veranstalter fragte einen Bekannten, ob er noch einen Autor kenne, der gut auf der Bühne könne, worauf er einen Autor nannte, der aber nicht konnte, der wiederum meinen Freund Roman Turban (Namen leicht geändert) fragte, der aber auch nicht konnte und der deshalb mich fragte, ob ich an seiner statt wolle...
Der Weg durchs Paradox - Das Zimmer der Livia im Palazzo Massimo alle Terme und die Poetik von Inger Christensen
Wäre dies eine Fototapete oder hyperrealistische Malerei, so wäre ich schnell wieder hinaus. Oder eine 3-D-Simulation: Ich würde die Brille in den Korb zurückwerfen, froh über den wiedergewonnenen nicht-virtuellen Raum um mich, in dem kein Vogel herangeschossen kommt und kurz vor dem Aufprall schwirrend in der Luft steht. Oder eine Blume aufblüht wie eine Rakete, dass ich schützend die Hand vors Gesicht ziehe.
Aber es ist keine Simulation...
Von bibliophilen Archäologen und anderen Kernspin-Kunden
Nicht nur, daß man sich seinen Rücken ruiniert und sich in einer Endlosschleife von Arzt zu Arzt, vom Kernspin zur Wirbelsäulenvermessung und von der Krankengymnastik zur Rückenschule und schließlich doch immerzu durch dauerhafte Schmerzen schleppt, weil man sich nicht belehren läßt und gegen jeden ärztlichen Rat weiterhin vor dem flimmernden Bildschirm des heimischen PCs ausharrt, gewöhnt an lindernde Mittelchen, die auf Dauer die Leber ruinieren. Man sondert sich ab, wird zum Sonderling und...
Schreiben als eine Autobiographie der eigenen Seele. Miral al-Tahawi - eine arabische Schriftstellerin des modernen Ägypten
Miral al Tahawi wurde 1968 in Sharqiya in Ägypten geboren. Während ihrer Studienzeit schloß sich Miral al-Tahawi einer radikalen Muslimischen Bruderschaft an, die sich gegen Unterdrückung, Korruption und fortwährenden Kolonialismus richtete, und veröffentlichte Artikel in deren Zeitschrift Al Liwa Al Islami. Diese wurden später als Sammelband unter dem Titel "Memoiren einer muslimischen Frau" herausgebracht. Miral al-Tahawi trug einen Schleier: "In dieser Epoche war das Tragen eines Schleiers für Frauen...
Bob Dylan auf dem Eigelstein
„Haie und kleine Fische“ – eine der täglichen Pflichten des Journalisten, sie aufzuspüren. joa (Autorenkürzel) war damals, Anfang/Mitte der 1980-er Jahre, ausschließlich als Journalist aktiv. Genauer: festangestellter Redakteur der „Kölnischen Rundschau“. Neben dem Schaffen in der Bezirksredaktion gehörte es zu joa’s bevorzugten Tätigkeiten, Features über aufstrebende Musiker aus der sich immer breiter machenden Kölsch-Rock-Szene zu verfassen, egal, ob sie Jürgen Zeltinger oder Marcus Neu...
Und führe mich nicht in Versuchung
Neulich sprach ich zu meiner Freundin, die katholisch ist, ob sie mich nicht mal wieder mißbrauchen und ihre schmutzigen Phantasien an mir ausleben möchte. Sie hat gelacht und mich auf später vertröstet. Katholikin eben. Auch wenn das hiesige Leben ein bißchen eintönig (und sinnlos sowieso) ist, später bzw. drüben soll es richtig abgehen. Daher ihre positive Grundstimmung. Ihre professionellen Glaubensbrüder sind zum Glück weniger zurückhaltend. Der Beichtstuhl ist bekanntlich der Darkroom...
Von den Siegern
Ich stand in der provisorischen Küche des Künstlerhauses, einer ehemaligen Schule, und spülte Berge von Geschirr. Die Küche war einst der Kartenraum gewesen – dort hing noch immer die alte Deutschlandkarte von vor 1945. Nebenbei kochte ich einen riesigen Topf Bohnen mit Rindfleisch für uns alle und hörte Radio bei der Küchenarbeit. Den Nachrichten lauschte ich wie immer mit halbem Ohr, während ich mich innerlich auf den nächsten Arbeitstag im Museum vorbereitete, bis mich irgendetwas Ungewöhnliches aufhorchen ließ. Es muss...
Barackenleben
Gleich rechts hinter dem Bahnübergang, unweit der ehemaligen Käserei, deren hässliche Verfallenheit sich als Inbild des Wendeelends aufdrängt seit Jahren am Rande des Dorfes, einstige DDR-Metropole für Fleischproduktion, das bald kaum etwas mehr zu erzählen haben wird, unweit des hellblau gekachelten, seit einigen Jahrzehnten in seiner kargen, reklamelosen Einrichtung unverändert gebliebenen Fischladens, der nur für wenige Stunden in der Woche öffnet, gegenüber der alten Kornmühle, die seit der Wende allmählich...
Das geeichte Alphabet – Chiffre für einen Moment. Dichtung und die Naturwissenschaften. Eine Revision.
In der Dichtung finden Bildmotive ihren Ausdruck in der menschlichen Stimme darin, wie sich diese zu Natur und Welt in ein unmittelbares Verhältnis setzt. Diese Unmittelbarkeit ließe sich auch als erste Natur der Dichtung bezeichnen. In ihr entscheidet sich, was nicht als wahr oder falsch angenommen, sondern was als unstimmig und stimmig erfahrbar ist. Dazu werden in kompositorisch assoziativer Weise Gedächtniskammern ausgelegt, um mit einem gleichsam archäologischen Blick verborgene Muster aufzuspüren. Während der...
Zu zwei Versen von Rilke
Mehr als andere, selbstgenügsamere Artgenossen erscheint mir der folgende Essay bedürftig. Bedürftig in erster Linie einer Umgebung, ja einer Schweizergarde aus anderen Essays, die sich in Ausführlichkeit und Deutlichkeit mit einigen Problemen beschäftigen, die den folgenden Text nur untergründig oder gar nicht durchziehen, ob es etwa der Mühe lohnt, sich zu zwei Versen von Rilke so auszulassen. Ob Lektüre etwas aufdecken kann, von dem sie zugleich behauptet, dass es nicht da ist. Ob die degressive Puppenkiste...
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