Das geeichte Alphabet

Essay

Autor:
Rosemarie Zens
 

Essay

Das geeichte Alphabet – Chiffre für einen Moment. Dichtung und die Naturwissenschaften. Eine Revision.

Let us record the atoms as they fall upon the mind in the order in which they fall, let us trace the pattern,however disconnected and incoherent in appearance … [it is] a vision … focused on the impact of mind upon objects, an autonomous act, it creates not so much a fusion as an elevated awareness of their relations…
Virginia Woolf, On Being Ill, 1930

In writing I seem to be discovering what belongs to what… From this I reach what I might call a philosophy…that behind the cotton wool is a hidden pattern; that we – I mean all human beings – are connected with this: that the whole world is a work of art, that we are parts of the work of art… we are the words; we are the music; we are the things itself.
Virginia Woolf, Moments of Being, 1941


Das geeichte Alphabet – Musterbildende Prozesse als Lebensprinzip
In der Dichtung finden Bildmotive ihren Ausdruck in der menschlichen Stimme darin, wie sich diese zu Natur und Welt in ein unmittelbares Verhältnis setzt. Diese Unmittelbarkeit ließe sich auch als erste Natur der Dichtung bezeichnen. In ihr entscheidet sich, was nicht als wahr oder falsch angenommen, sondern was als unstimmig und stimmig erfahrbar ist. Dazu werden in kompositorisch assoziativer Weise Gedächtniskammern ausgelegt, um mit einem gleichsam archäologischen Blick verborgene Muster aufzuspüren. Während der Schnittpunkt zwischen Erinnerung und Wahrnehmung oszilliert - was erlebt die Stimme gerade, was verwirft, was erinnert sie – werden die einzelnen Gedichte als Textkörper verankert und ins Offene gestellt.

Das Zusammenwirken der strengen Form und der lose aneinander gereihten Sprachbilder erzeugt eine Art Wechselstromkreis, gemäß der Annahme, dass die musterbildenden Naturprozesse, die die menschliche Hand wie die Stimme geformt haben, sich auch auf die Werke auswirken, die Hand und Stimme im Begriff sind zu erschaffen. Denn die sich dauernd verändernden Daseinsformen und -rhythmen gehorchen einem Ordnungsprinzip, auf das im Wesentlichen das Prinzip alles Lebendigen beruht.

Dabei geht es beim Überschreiten der Grenzen zwischen Dichtung, Traum und Wirklichkeit, z. B. beim Verschmelzen der Sinneseindrücke, bei der Verlagerung vom Subjekt zum Objekt und umgekehrt und deren Überlagerung und Überbrückung durch dichterische Bild- und Wortanalogien um ein zentrales Lebensgefühl: in Abgrenzung und Zustimmung verlassen und geborgen zugleich zu sein. In der Teilnahme an einem Unendlichen, das das Lebendige in punktuellen Gleichgewichtszuständen bestimmt durch Maß und Abweichung, Rhythmus und Variation.

Asymmetrische Geometrie – Poesie und die Naturwissenschaften
Die Frage, was kann Dichtung auch oder sogar besser, was die Naturwissenschaften können und umgekehrt, ist irreführend. Um ein tieferes Verstehen des In-der-Welt-Seins geht es beiden. Und im besten Fall sind beide sich ihrer Vorgehensweise und Kategorien wie Erkenntnisgrenzen bewusst – eine Voraussetzung, um in eine angemessene Beziehung zueinander zu treten und die jeweils eigenenCharakteristiken zu konturieren. Da wörtliches Benennen und Beschreiben der Dinge nur dann eine entsprechende Wirkung hervorrufen, wenn die deutlich subjektive Anschauung ihnen einen tieferen Sinn verleiht, stellt sich die Poesie mit genauer Beobachtung, mit wachsamen Sinnen - gerade auch in ihren Irritationen - im „Verhältnisspiel“ mit der Welt immer wieder neu dem Maß des Menschlichen. Im Bewusstsein, dass wir Teil der Evolution sind: jenes Wissen darüber, was wir als Menschen tun, weil wir Menschen sind.

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