Das geeichte Alphabet

Essay

Autor:
Rosemarie Zens
 

Essay

Das geeichte Alphabet – Chiffre für einen Moment. Dichtung und die Naturwissenschaften. Eine Revision.

Im Gegensatz dazu finden sich in der Beschreibung naturwissenschaftlicher Forschung zum Beispiel Sprachbilder als Metaphern, wie die schwarzen Löcher, der weiße Zwerg, der genetische Code – dort, wo das Material der Beobachtungen zunehmend nur mehr mittelbar erfahrbar wird und nicht mehr der sinnlichen Anschauung zugänglich oft eine Gewissheit vorgaukelt, in der die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens aber nur hinausgeschoben oder irregeführt werden. Auf jeden Fall in dem Sinne, wie es der Astrophysiker Hans-Peter Dürr formuliert – die volle Realität der Gegenstände voraussetzend -, dass das Wahrscheinliche immer wahrscheinlicher wird. Und weiter ausführend kommt er zu einem erstaunlichen Berührungspunkt innerhalb der Forschungen zur belebten und unbelebten Natur: „Man hat die Materie immer weiter auseinander genommen und stellt fest, es bleibt etwas übrig, das nicht mehr die Eigenschaften unbelebter Materie hat, sondern solche, die man eigentlich dem Lebendigen zuordnet: Es ist nicht determiniert, es ist spontan, kreativ, es entsteht und vergeht.“

Beiden – den Naturwissenschaften und der Dichtung – geht es um Wahrnehmung, die zugleich Muster, wie vermutete Zusammenhänge bildet. Doch während die Naturwissenschaften von der Evolutionsbiologie, der konvergenten Nanotechnologie bis zur Neuroinformatik durch Modelle und Konstruktionen zu Erkenntnissen streben und erst im Nachhinein nach den Folgen für Mensch und Umwelt fragen, sucht die Dichtung von vorneherein das Lebendige zu gestalten. Und umso mehr das Material der Beobachtungen zunehmend nur mittelbar erfahrbar wird, erhöht sich der Anspruch an sie. Was lässt sich durch die dichterische Stimme ausdrücken, auf welche Weise - auch hinsichtlich der eigenen Natur – mit und über sie in kreativer Reaktion mittels der Einzigartigkeit der intuitiven Wahrnehmung? Den physikalischen Grundgesetzen und existentiellen Notwendigkeiten folgend. Vor dem Hintergrund der Wunder der Natur und dem Schweigen der Räume. Neben der ersten Natur als Ort unmittelbarer Erfahrung stellt sich die zweite Natur als Ort der Selbstreflexion dar im Widerspiel von Natur und Kultur. Durch Teilen und Mitteilen. Zwischen Macht und Ohnmacht. Und zugleich als ein Spiel zur Wiederherstellung des Zusammenhangs. Auf der Suche nach dem Unbegrenzten und Universellen. Zwischen Gefühlen des Erhabenen, Gedanken zu Sinnfragen und Einsichten über Scheitern und Fehlgehen. Bis zur lakonischen Hinnahme und Achtung der Phänomene, die wir erleben und erforschen. Darin treffen sich Naturwissenschaft und Dichtung mit ihren jeweiligen Zugangsweisen zur Wirklichkeit gleichsam in asymmetrischer Geometrie.

Alles Fluechtige zuruecknehmen – Vom Gesetz der Währung

Pythagoras hat bereits die Struktur der Welt mithilfe der Mathematik zu ergründen gesucht. Ebenso bestehen seit altersher die Spekulationen über die Einheit des Universums darin, die Erkennbarkeit des Unbekannten aus der Natur abzuleiten, z. B. die Zusammenhänge von Musik und Alchemie zu begreifen, von Zahl und Wort – und das gilt bis heute - von Orakelsystemen bis zu biochemischen Strukturen. Dennoch - wie das Möbiussche Band lassen sich denkerisch aber nur Kreise formen, die nach Innen und Außen gewendet und gedreht, in unendlich miteinander verwobenen Ketten nureinzelne partielle Verknüpfungen in den Blick rücken.

Dichtung - ihrer zweiten Natur nach in hohem Maße selbstreflexiv - spielt bewusst mit den Paradoxien, Phänomenen und Begriffen ohne lineare Ziel- und Zweckgebundenheit. Dabei bleibt die Welt als Ganzes eine Wunderkammer für Metaphern auf der Suche nach Aufhellungen, die der flüchtigen Anschauung entgehen. Hierzu versetzt unsere Einbildungskraft uns zurück in archaisch-romantische Zustände des ungesicherten Daseins mit all ihren Widersprüchen und vergleicht Geschichte mit den Stadien des Lebens vom Werden und Vergehen. Das Erhabene bekommt eine zugleich wissenschaftliche wie ästhetische Signatur. Am Ende aber suchen die dichterischen Verse Gesang zu werden, der die Polaritäten für einen kurzen Moment aufhebt.

Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede zwischen Naturwissenschaft und Dichtung liegen vor allem in ihrem Bezug zu der Zeit. Beide wollen die Zeit aufheben. Doch während die erstere danach strebt, die Zeit zu besiegen, ihre Wirkungen, Krankheit und Tod, wie überhaupt jede Form von Entropie zum Verschwinden zu bringen, sucht die Dichtkunst aus der Zeit herauszutreten. Als befänden wir uns in einem Moratorium, in dem wir in ein Gespräch treten mit etwas, das in der Kunst als Schönheit bezeichnet in seiner Unermesslichkeit nicht wird, sondern in gebrochenen und höchsten Symmetrien einfach ist. Insofern streben Dichtung und alle Kunst danach, quasi aus einer Leere, die überfliesst, mit dem Muster übereinzustimmen, das in fortwährenden Gleichgewichtsmomenten dem Gesetz des Lebendigen innewohnt.

Es ist bemerkenswert, wie der Mathematiker Jules Henri Poincaré und viele Wissenschaftler, die die Natur in einer besonders zugewandten Weise erforschen, mit einem differenzierten Blick das Phänomen Schönheit betrachtete. Er schreibt: “Der Wissenschaftler studiert die Natur, nicht weil sie ihm nützlich erscheint, er studiert sie, weil er sich an ihr erfreut, und er erfreut sich an ihr, weil sie schön ist. Wenn die Natur nicht schön wäre, wäre es wertlos etwas über sie zu wissen, und wenn die Naturerkenntnis wertlos wäre, wäre das ganze Leben nichts wert. Natürlich meine ich hier nicht die Schönheit, die unsere Sinne berührt, die Schönheit mit ihren Eigenschaften und Erscheinungen, nicht dass ich solche Schönheit unterschätze, weit davon entfernt, aber diese hat nichts mit Wissenschaft zu tun; ich meine diese tieferliegende Schönheit, die aus der harmonischen Ordnung der einzelnen Teile kommt und die eine reine Intelligenz begreifen kann.”

Dichtung hingegen umfaßt zwar die Sichtweise Poincarés, geht jedoch über die reine Dualität von Sinnlichem und Intellektuellem - ihrer ersten und zweiten Natur – hinaus. Sie tut dies aufgrund ihrer inhärenten “überfliessenden” Fülle und gleichzeitig als Teil der geformten und zu formenden Erscheinungen, indem sie im Verlebendigen dieser als dem jeweils immer wieder Anfänglichen Muster hervorhebt und mitgestaltet; Muster getragen von einer durchgehend wechselseitigen Abhängigkeit, entsprechend unserer Zeiterfahrung als Dauer im Wechsel, als Wandel nach dem Gesetz der Währung.

erschien als Originalbeitrag in Signum, Blätter für Literatur und Kunst, Dresden 2010


Vortrag gehalten beim 13. IAPh (Internationale Assoziation der Philosophinnen) Symposion, assoziiert mit dem 22. Weltkongresses der Philosophie  vom 27.07. – 05.08.2008 in Seoul.
 

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