Prosa
Von den Siegern
Ich stand in der provisorischen Küche des Künstlerhauses, einer ehemaligen Schule, und spülte Berge von Geschirr. Die Küche war einst der Kartenraum gewesen – dort hing noch immer die alte Deutschlandkarte von vor 1945. Nebenbei kochte ich einen riesigen Topf Bohnen mit Rindfleisch für uns alle und hörte Radio bei der Küchenarbeit. Den Nachrichten lauschte ich wie immer mit halbem Ohr, während ich mich innerlich auf den nächsten Arbeitstag im Museum vorbereitete, bis mich irgendetwas Ungewöhnliches aufhorchen ließ. Es muss ein Wort gewesen sein, das sich nicht einfügte in die tägliche Routinesprache der Nachrichten. Doch es war eine unaufgeregte Nachricht. Dann ein Originalzitat von Günter Schabowski, dieser Mann war mir bisher nicht geläufig gewesen, seine zögernde Stimme, die eine Nachricht unendlich in die Länge zu ziehen schien. Der Mann schien selber nicht zu wissen, was er sagte, denn es lag ein ungläubiges Staunen in einer Stimme voller Fragezeichen. Da war von Freizügigkeit ab sofort die Rede, oder war es das Wort freier Grenzübertritt, ich weiß es nicht genau. Er sagte sogar: Wenn ich das, was ich da lese, richtig verstehe … Ich übersetzte, verstand, begriff unverzüglich und ohne jeden Zweifel, was da etwas lapidar und ungeschönt, ein wenig ungläubig gar und umständlich, ausgesprochen wurde, ohne, dass jemand es so aussprach, wie es sich unumwunden in meinem Kopf formulierte: „Die Mauer ist geöffnet!“ Ja, ich sagte es sofort laut vor mich hin und ging dann ins Nachbaratelier zu meinen nach Feierabend Schach spielenden Kollegen: „Die Mauer ist auf.“ „Erzähl keinen Unsinn“, sagten sie und spielten ungerührt weiter. „Du musst dich verhört haben.“ Die Kollegen spielten und tranken ihr Bierchen dazu. Ich brachte ihnen eine halbe Stunde später mein Transistorradio. Ich stellte das Radio mitten aufs Schachbrett, so dass die Figuren umkippten oder auf den Boden rollten. Sie hörten zu, hoben die Figuren auf und stellten sie wieder in die letzte Position. Mir gegenüber wirkten sie unschlüssig und wohlwollend zugleich. So wie ich hatten sie niemanden „drüben“. „Komisch“, das war ihr Fazit, „die vereimern ihre eigenen Leute.“ Ich brachte die Bohnensuppe und ließ das Radio weiterlaufen. Alles Weitere an Informationen von Stunde zu Stunde blieb unaufgeregt, die Euphorie blieb aus. Die Sprecher blieben vorsichtig. Man hielt sich lieber an die Fakten, wie die wachsende Menschenmenge vor den Grenzübergängen. Gerade hatte ich wieder einen Visumsantrag gestellt, obwohl ich erst vor wenigen Monaten dort gewesen war. Der wird ab sofort überflüssig, dachte ich vollkommen überzeugt.
Und ich ging zum Telefon eine Etage tiefer. Ich hatte in die Gesichter der Greise auf der Tribüne geschaut, als das junge Schalmeien- und Fahnenvolk in gestärkter Kluft an ihnen vorbeiexerzierte. Junge, lachende Gesichter, darunter steife Körper in gebügelten Uniformen. Versteinerte Gesichter auf der anderen Seite, darunter steif, geschwächte Körper in gebügelten Anzügen, kalte alte Gesichter mit dünnen Strichmündern und undurchdringlichen Blicken, die Haut selbstgefällig geglättet, dass sich mir das Anagramm des Wortes GREISE aufgedrängt hatte: SIEGER. Waren sie die Sieger über ein Volk geworden, das immer sehnsuchtsvoller gen Westen blickte? Aber ich hatte doch erst kürzlich den alten Staatsrat mit fester Stimme vernommen: Die DDR existiert noch hundert Jahre. Ich fand das vermessen und bedrohlich. Ich hörte die Stimme noch tagelang und fand keinen Schlaf. Das ist Diktatur, dachte ich damals, denn ich hatte meine Verwandten immer anders wahrgenommen. Sie wollten anders leben. Auch heute wollen sie wieder anders leben. So ziemlich alle zwei Jahre erhielt ich ein Visum für die Zone, denn dort lebten Oma und Verwandtschaft. Heute sind Oma und Jockel tot, Oma ist 97 geworden und Jockel hat nicht mal ein Jahr Westrente überlebt. Zum Schluss sah man ihn nur noch mit Ziehkarren sein tägliches Pensum Bier und Schluck nach Hause transportieren, mit dem er sich im Kohlenkeller langsam zuschüttete. Seine Frau flößte ihm auf dem Sterbebett süße Sahne ein.
Ich liebte die Berliner Oberbaumbrücke. Eine Fußgängerpassage über der Spree mit alten Eisenbeschlägen. Ich liebte ihren Namen, eine Verbindung zwischen zwei Bäumen, zwei Stammbäumen vielleicht. Als ich in den 80ern in Berlin gelebt hatte, wurde sie Gegenstand einer eigenartigen Sehnsucht: Einmal darüber laufen können – auf die andere Seite! Direkt daneben gab es ein kleines Café, in dem ich manchmal saß, schrieb und mir vorstellte, wie die Welt beschaffen sein müsste, damit die Brücke begehbar würde. Oft ging ich abends hin und blickte sie in der Dämmerung an, ihre stacheldrahtverhauene Präsenz, ihre unter der Sicherheitstechnik verborgene Unschuld, ihre Unüberwindbarkeit, ihre Nutzlosigkeit. Manchmal weinte ich, wenn ich sie aus der Entfernung wahrnahm.
Jockel aus Ferdinandshof sagte oft: „Die DDR ist ein einziger Dunghaufen.“ „Na ja“, sagte ich dann, Dung ist die Grundlage für neues Wachstum. Er verbesserte sich ärgerlich und verwendete noch einmal, sehr deftig das deutsche Wort für die menschlichen Verdauungsreste. Trotzdem sagte er zu mir: „Du bist richtig für die Jugend.“ Zwei Jahre später arbeitete ich an Jugendprojekten im Kreis Pasewalk und wollte nie wieder weg aus dem Nordosten. Zwanzig Jahre lang hatte ich als Künstlerin und Museumspädagogin in einer westdeutschen Großstadt gelebt, und nun war ich Sozialarbeiterin, als habe es nie einen anderen Beruf für mich gegeben.