Von den Siegern

Prosa

Autor:
Angelika Janz
 

Prosa

Von den Siegern

Aber an jenem bewussten Abend, der wie jeder andere Tag begonnen hatte und doch so anders endete, da saß die kleine Familie im anderen Teil Deutschlands am Abendbrotstisch.  Dieses Abendbrot-Tischbild hatte sich in mir eingeschrieben, und ich wusste: Jockel aß fast nichts, denn er war bereits abgefüllt. Die Tante saß aufrecht und schweigend, feurige Blicke versprühend, sie schob sich einen Aal, den sie vorher wie eine Banane geschält hatte, in den Mund. Der Tisch war eingedeckt mit Schlachtwurstsorten vom letzten gefutterten Schwein. Die dünne gichtkranke Tochter konnte keinen Bissen runterkriegen, sie hatte zwei Schlagersüßtafeln und einen Liter Kaffee intus. Sie rauchte hektisch ihre dritte Zigarette und verfolgte teilnahmslos die Bewegungen der Mutter. Als ich anrief, ging die Tante gleich an den Apparat. Ich schrie in den Hörer: „Mensch, Leute, die Mauer ist auf!“ Die Tante sagte: „Du spinnst. Alles ist wie immer.“ Ich sagte: „Hast du schon Nachrichten gehört?“ „Ja“, sagte sie, „die haben schon was Komisches gesagt, aber das machen die öfters, du irrst dich bestimmt. Die wollen uns nur bei der Stange halten.“ Aus dem Hintergrund vernahm ich Jockels vorpommersche Stimme: „Die DDR ist ein einziger …“ Die Tochter zischte ihn an. Er verstummte. Jockel würde sich gleich angezogen auf dem Vorleger vor dem ehelichen Bett ausstrecken und schnarchen. „Mach dir keine Hoffnungen“, sagte die Tante zu mir. Ich sagte: „Ich rufe in zwei Stunden wieder an, ihr werdet sehen, ich habe Recht, die Mauer ist auf.“
Aber da kam ich schon nicht mehr durch. Die Leitungen waren völlig überlastet und die ersten jubelnden Fernsehbilder überfüllten den Äther. Wenige Tage später war ich schon so oft die Oberbaumbrücke in beide Richtungen gelaufen, dass es in meinem grünen Reisepass keinen Stempelplatz mehr gab. Immer wieder war ich über die Brücke gelaufen, geschlendert, gejagt, und dann stundenlang und wie befreit durch die fremde deutsche Großstadt gegangen, durch die ich mich einst nur ängstlich vorwärtsbewegt hatte. Ich habe zunächst nur wenig gesprochen und nur geschaut und meine Nase in alle möglichen Räume und Läden gesteckt. Mich interessierten Gerüche und die Strukturen und Farben der Dinge, die sich anders als bei uns anfühlten. Ohne Zeit- und Routenplanung durchquerte ich die Stadt per Straßenbahn auf schwankendem Grund. Die Fassaden erinnerten mich an ein fernes, einst entrücktes Zuhause.


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