"eingekreist" - Kolumne September 2010 - Alter Markt

Kolumne

Autor:
Christian Kreis
 

Kolumne

Alter Markt

Jedesmal, wenn ich in Bernburg bin, gehen wir essen in den Alten Markt, und jedesmal läuft dort diese extrem langsame Blasmusik, die bei mir sofort eine Blasenschwäche auslöst, sodaß ich ständig aufs Klo rennen muß, bis meine Mutter sagt, ob es nicht gut wäre, wenn ich mal zum Urologen ginge, und ich am liebsten in den Gastraum brüllen will: Nein, ich muß nicht zum Urologen, es reicht aus, mal nicht in den Alten Markt zu gehen. Eine schnippische Kellnerin, in Phantasietracht, mit Überbiß fragt dann, nachdem ich der Prostataermüdung Tribut gezollt habe, in einer wiederum Tinnitus provozierenden Stimmhöhe, ob wir schon etwas zu trinken wünschen, während sie riesige, in Kunstleder gewandete Speisekarten verteilt. An den Wänden um mich herum hängen getrocknete Maiskolben, Knoblauch und Zwiebelketten, Bratpfannen, Firmenschilder, Stadtansichten, eingerahmte Inflationsgeldscheine, Plasteweintrauben, Wandteller, auf dem Fensterbrett stehen gußeiserne Fleischwölfe, Kaffeemühlen und Strohblumensträuße. Die Spezialitäten sind Waldauer Leberpfanne, Bernburger Fleischteller, Bernburger Zwiwwelklump, Baalberger Lammteller. Ich bestelle meist Rostbrätel mit Zwiebeln und Bratkartoffeln, die so fettig sind, daß ich mir danach den Bauch abtaste in der Befürchtung, demnächst an Bauchspeicheldrüsenkrebs zu sterben, obwohl ich gar nicht weiß, wo sich die Bauchspeicheldrüse befindet. Ich bestelle ein großes Bier, nehme einen Schluck und renne wieder aufs Klo, wo ich mir überlege, ob ich nicht doch mal zum Urologen gehen sollte. Ich gehe zurück an den Tisch und höre auf halber Höhe meine Oma zu meiner Mutter sagen, der Junge muß aber wirklich oft, er sollte unbedingt mal zum Urologen gehen. Ältere Ehepaare sehen von ihrem Bernburger Fleischteller auf und nicken ihr beipflichtend zu. Ich setze mich und nehme einen großen Schluck Bier. Mein Vater fragt mich, was ich eigentlich den lieben langen Tag so mache, wie weit ich damit bin und wie lange es noch dauert. Ich bestelle ein zweites Bier. Meine Mutter guckt mich besorgt an.  

Als ich dieses Mal in Bernburg war, hatte ich mir vorgenommen, eine Kolumne über den Alten Markt zu schreiben. Wenn ich schon gezwungen wurde, wieder in den Alten Markt zu gehen, konnte ich immerhin Notizen machen für die innere Bewältigung des Alten Markts in Form einer kolumnistischen Äußerung. Dafür fehlten mir noch einige Beobachtungen. Denn so oft ich da war, verdrängte ich auch mein Dort-sein. Und dann eröffnete mir meine Mutter, daß wir heute mal nicht im Alten Markt essen würden, sondern beim Italiener. Wieso, fragte ich, essen wir nicht wie immer im Alten Markt? Nein, sagte sie, mir zu Liebe habe sie heute einen Tisch beim Italiener bestellt. Außerdem könne man eine kleine Abwechslung vertragen. In der letzten Zeit seien wir ja zu oft im Alten Markt gewesen. Schade, sagte ich. Dabei sei es im Alten Markt immer so urgemütlich. Die Bedienung angenehm und sympathisch. Außerdem mag Oma keine italienische Küche, seit die uns dreiundvierzig in den Rücken gefallen sind. Meine Mutter schaute mich an, als müßte ich nicht nur zum Urologen, doch schon hatte sie mich durchschaut. Also gab ich zu: Ich möchte eine Kolumne über den Alten Markt schreiben und darüber, daß ihr mich seit Jahren damit quält, in den Alten Markt gehen zu müssen. Meine Mutter, die natürlich stolz auf ihren kolumnenschreibenden Sohn ist, hatte großes Verständnis dafür und bestellte den Italiener ab, rief beim Alten Markt an und ließ dort einen Tisch für uns freihalten. Mir blieb nun wieder nichts anderes übrig, als mit der Familie in den Alten Markt zu gehen. So angestrengt ich lauschte, ich hörte erst nichts von der gewohnten Blasmusik. Haben sie heute die Blasmusik ausgestellt, fragte ich die Kellnerin, die daraufhin die Blasmusik anstellte, sodaß ich augenblicklich aufs Klo gehen konnte. Und dann notierte ich mir, daß an den Wänden getrocknete Maiskolben, Knoblauch, Zwiebelketten, Bratpfannen, Firmenschilder, Stadtansichten, eingerahmte Inflationsgeldscheine, Plasteweintrauben, Wandteller zu sehen sind und auf dem Fensterbrett gußeiserne Fleischwölfe, Kaffeemühlen und Strohblumensträuße. Wir wollen deiner Kreativität nicht im Weg stehen, prostete mir Vater zu. Ich bestellte ein Rostbrätel mit Zwiebeln und Bratkartoffeln. Am nächsten Tag bin ich zum Urologen gegangen.