Zu zwei Versen von Rilke

Essay

Autor:
Tobias Roth
 

Essay

Zu zwei Versen von Rilke

Vorbemerkung.

Mehr als andere, selbstgenügsamere Artgenossen erscheint mir der folgende Essay bedürftig. Bedürftig in erster Linie einer Umgebung, ja einer Schweizergarde aus anderen Essays, die sich in Ausführlichkeit und Deutlichkeit mit einigen Problemen beschäftigen, die den folgenden Text nur untergründig oder gar nicht durchziehen, ob es etwa der Mühe lohnt, sich zu zwei Versen von Rilke so auszulassen. Ob Lektüre etwas aufdecken kann, von dem sie zugleich behauptet, dass es nicht da ist. Ob die degressive Puppenkiste des Jean Paul’schen und Laurence Sterne’schen Humors nicht praktisch mehr zerstört, als er letzten Endes sichtbar machen und bewahren kann. Ob sich Ausführlichkeit und Deutlichkeit herstellen lassen, wenn man einmal so angefangen hat. Nicht zuletzt: Ob es entscheidbar ist, ob eine Vorbemerkung dazu etwas hilft oder nicht.
Ende der Vorbemerkung.


Die dritte Duineser Elegie beginnt mit den Versen:

Eines ist, die Geliebte zu singen. Ein anderes, wehe,
jenen verborgenen schuldigen Fluss-Gott des Bluts.

Dass diese zwei Verse im Folgenden auf sich allein gestellt sein werden, dürfte aus dem Titel dieses Essays bereits hervorgegangen sein (und wird hier nicht weiter mit Begründungen und Entschuldigungen umgarnt werden. Das Gedicht wurde von Rilke 1912 auf Schloss Duino, unweit Triest, begonnen, und einige Zeit später, 1913, in Paris, beendet, anno aetatis suae XXXVII). Die beiden Verse spannen, allseitig, eine Antithese auf, hart aufeinander gedrängt am Ende des ersten Verses. Dessen abschließendes „wehe“ zeigt bereits an, dass die Antithese als Ganzes, und vor allem ihr zweites Glied dem Sprecher nicht ganz behagt. Denn von Glied und Gliedern würde er lieber ganz absehen, um nur die Geliebte singen zu können. Rilkmar der Alte spießt medias in res das petrarkistische Urei auf die Pointe seines Elegieneingangs. Was dadurch aber beschrieben wird, ist nichts weniger als eine Lücke der ihm zu Gebote stehenden, deutschen Sprache in Liebesdingen, die Rilke dennoch im Vers bespricht, ausleuchtet, sichtbar macht.

Radikal verschieden, durch einen unübersteigbaren Graben getrennt sind die Pole, die hier in die allgemeine Gegenüberstellung „das Eine vs. das Andere“ platziert werden: die Liebe und das Blut. Das Bedeutungsfeld, das vom Einen zum Anderen aufgespannt wird, ruht, allgemein gesagt, auf der sozialen Beziehung zwischen Menschen, enger: einer zugeneigten, zärtlichen. Das Feld ist das „soziale Rätsel“ (Canetti). „Liebe“ in einem weiten Sinn könnte das ganze Feld überspannen und taufen, aber Rilke macht uns sehr deutlich, dass er gerade das nicht will. Er besetzt mit „Liebe“ nur einen Pol. Das „Blut“ des anderen Pols könnte nun sein: Freundschaft, Verwandtschaft, Sexualität. Man bemerkt hierin schon eine Staffelung nach Plausibilität, oder besser und ehrlicher: nach strategischer Relevanz.
Freundschaft kann in der Stärke, wie sie als Blutsbrüderschaft in unseren Assoziationsraum tritt, jene Liebe so übersteigen, dass sie den anderen Pol besetzten kann. Aber das Blut darin hat nicht jenes Fließende, wie es im zweiten Vers gefordert wird, man könnte sagen, nicht jenes Aterien- und Venenmäßige. Das eignet der Verwandtschaft schon eher, stärker als irgendeinem. Das Angeborene, füreinander und zueinander Geborene, das der europäischen Liebessprache beliebte Metapher ist, ist der Verwandtschaft blanker Fakt. Ausgeschaltet aber ist hier das Moment des Wählens und des Von-Außen-Herantretens, das in der These präsent ist, indem von der „Geliebten“ und nicht von der „Liebe“ die Rede ist: so haftet ihr, als Spur, noch ein Stück an von den Handlungen, die vom Nullzustand zum Zustand der Liebe führten und den Handlungen, die ihm Dauer verleihen.

Also haben wir am deutlichsten einen Fluss-Gott der Sexualität zu gewärtigen (und wüssten es deutlich, wenn wir ein paar Verse weiterschielen würden), breit und völlig, ohne Nebenströme oder Najaden. Die Sexualität in Rilkes Bild lässt sich natürlich wunderbar auslegen, bis dorthinaus (1). Aber wir wollen ihm nicht dadurch dabei helfen, den Keil noch tiefer zwischen die beiden Pole zu treiben: wir wollen sehen, wohin er ihn treibt. Denn er treibt ihn in ein Nichts des Deutschen, in eine sprachliche Leerstelle, die in diesen beiden Versen deutlich, schreiend wird. Der Abstand zwischen Liebe und Freundschaft, Liebe und Verwandtschaft, Liebe und Sexualität, sowie je zwischen Freundschaft, Verwandtschaft und Sexualität, ist im Deutschen nicht durch sprachliche Zwischenstufen verbunden, wir sehen uns einer sprachlich kargen Organisation gegenüber. Die Vermischungen bedeuten Gefahr, stellen keine Handlungsanweisungen bereit. Sicherlich aber bleiben diese Rahmenbezeichnungen für interaktive Verhältnisse zwischen Menschen weit hinter dem zurück, was an Verhältnissen innerhalb dieses Rahmens im Alltag möglich ist. Keine Nomen stehen für die durchaus erlebbaren Zwischenstufen zur Verfügung, und ein geringer Vorrat an Metaphern, die der jeweils anderen Seite entnommen sind (z.B. Blutsbrüderschaft, Wahlverwandtschaft etc.), machen den Mangel umso deutlicher.

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