Prosa
Barackenleben
In den Barackenwintern der Nachwende –
brandiger Kaffeeduft in überheizten Räumen,
mit einer Handvoll Menschen aus dem Nichts der Statistik-
beginnt, eiskalt, brühwarm, die Schule des Erinnerns –
vor der statischen Kulisse
aneinandergerückter Fernen junger Geschichte.
Ferdinandshof im Nov. 1996
Gleich rechts hinter dem Bahnübergang, unweit der ehemaligen Käserei, deren hässliche Verfallenheit sich als Inbild des Wendeelends aufdrängt seit Jahren am Rande des Dorfes, einstige DDR-Metropole für Fleischproduktion, das bald kaum etwas mehr zu erzählen haben wird, unweit des hellblau gekachelten, seit einigen Jahrzehnten in seiner kargen, reklamelosen Einrichtung unverändert gebliebenen Fischladens, der nur für wenige Stunden in der Woche öffnet, gegenüber der alten Kornmühle, die seit der Wende allmählich vor der täglichen Zeugenschaft tausender vorüber fahrender Fahrzeuge und als Kulissenschutz vor dem prächtig dahinter verwildernden Garten ein wenig würdevoller verfällt, hinter dem schwer zu schließenden, doch leicht zu überwindenden Eisentor gegenüber, da, wo die Pflasterung aufhört, wo sie, je nach Wetter und Einsatzstimmung den Schlamm oder Staub der Zugangs -und Zufahrtswege verschieben, kehren und harken, jene einander in den Nachwendejahren abwechselnden Brigaden der "Maßnahmen", Menschen mit ausnahmslos müden Gesichtern, mit traumatisch langsamen Bewegungen, dort ist unsere Baracke, gegenüber der Klobaracke, die im Winter nur zu festen Zeiten und bei Frost gar nicht benutzbar ist,
dort ist nach letzten tiefen Zügen die eilig vor Arbeitsantritt entzündete Zigarette im übervollen Aschenbecher aus Blech auszudrücken, der an die Form einer um- und ausgestülpten ägyptischen Pyramide erinnert.
Tritt ein, überwinde den nass gewischten Linoleumboden unter den pflichtgemäß lauernden Blicken der erschöpften Reinigungskraft, jetzt lächelt sie über deine Vorsicht, die ihre Arbeit achten will, sie, die weder Pause noch einen Pausenraum kennt, illegal abgestellt zum Reinemachen im angeblich Warmen, die die Schwer-und Schmutzarbeit draußen in der Forst hoffnungsvoll einzutauschen glaubte gegen diese verächtliche Servicearbeit, die man ihr wohlwollend angeboten hatte, tritt ein: links ist das Büro, du erkennst es an dem bunten Tanz plastischer Buchstaben entlang des Türrahmens, der den Ordnungssinn des Lesenden aufzurufen scheint, bis sich dir allmählich ein Funktionssinn buchstabieren will.
Tritt im Winter ein in die wohlige Gesellschaft des glühenden, stinkenden Kachelofens, der zum Zwecke deiner Austrocknung nicht immer verlässlich der Technik der Umluft gehorcht, tritt ein in das Hintergrundflirren des von der Geschäftsleitung verbotenen Radioempfängers, in den Duft von Kaffee, der dem seit Stunden glucksenden Automaten entströmt, in dieses langgestreckte, auch bei Tageslicht stets dämmrige Gelass mit den Raummaßen eines Konferenzraumes, der von überbreiten Furniertischen und der schäbigen Polsterbestuhlung fast ausgefüllt ist.
Die Mitarbeiter des gesamten Gebäudes sind jetzt hier versammelt, sie haben bereits zwei Frühstücksstunden hinter sich, dabei wechselten sie die Räume der jeweiligen Kolleginnen und Kollegen, um neuen Kaffee zu brühen, wechselten weniger die Themen: sie erzählen von zu Hause, von günstigen Kaufangeboten und von früher, und du setzt dich auf einen Schluck Meisterröstung dazu, bevor du gegen 9 Uhr deinen Schreibtisch am Fenster und nahe beim Ofen einnimmst und in ungewolltem Vorsitz zur Konferenzformation deine Arbeit antrittst.
In den wärmeren Monaten ab Mai erreicht die Sonne die Fenster erst nach offiziellem Dienstschluss, du leidest an Lichtarmut und bleibst ausgekühlt, so musst bis in den Juli hinein dafür sorgen, dass der Ofen keucht, bei offenem Fenster, wegen der sonst allzu winterlich anmutenden Hustenanfälle und der Immission, ein Wort, das ich hier erst in seinem praktischen Anwendungswert kennenlernte; das Holz und die Kohlen lagern in der feuchten Garagenanlage am anderen Ende des Geländes, und du zweifelst stets neu an deinem Verstand, wenn du in die sommerlich erwärmte Atmosphäre hinaustrittst mit Kohlenkiepe und Holzeimer, doch bist du wenig später dankbar für die entschiedene Aktion, die oft eine Stunde deiner nach hinten hin offen bleibenden Arbeitszeit verbraucht. Die Kleidung ist zu allen Jahreszeiten von diesem unverkennbaren Geruch durchdrungen, einer Mischung aus feucht-scharfem Moder, dem Räuchergeruch des undichten Ofens und jenem Putz -und Waschmittelgeruch aus alten DDR-Tagen- und Beständen: kürzlich sagte unser Vorarbeiter aus dem Büro der Kompostierung:
Dieser Geruch ist mindestens 48 Jahre alt, 40 Jahre DDR und 8 Jahre: Einheit. Er ist... wie die Zukunft der Erinnerung. Er sorgt dafür, dass wir nicht so schnell vergessen. Und nach einer kleinen Pause: Als wir einmal Anfang der Achtziger unseren Serviceraum mit so einem westlichen Meistermittel gewienert hatten, das eine Sekretärin in einer kleinen Glasflasche grün abgefüllt mitgebracht hatte, schämten wir uns erst und dachten dann, wir hätten sowas wie den Frühling lebenslang verpasst. Und nach einer weiteren kleinen Pause: Ich mag den alten Geruch wieder. Das ist wie trotzdem an unsinnigen Regelmäßigkeiten festhalten, die man erst wahrnimmt, wenn sie einen ununterbrochen gestört haben, ohne zu wissen, warum eigentlich. Und dann gehört das plötzlich zu einem.. Da wird man wehmütig, egal, ob es da ist oder fehlt. Aber man achtet jetzt auf beides.
Dieser Mann wollte, so erzählte er mir einmal bei einer der nicht seltenen Geburtstagsfeiern im Barackentrakt, als junger Genosse Kunst studieren, doch habe man für ihn "etwas anderes geplant gehabt". Jetzt ist er auf dem besten Wege, Chef der bald auszugründenden Kompostierungsanlage zu werden.