Barackenleben

Prosa

Autor:
Angelika Janz
 

Prosa

Barackenleben

Mein Kinomann war weg, die Bürofrauen alle ausgetauscht, die Chronistinnen wieder ins Hausfrauendasein entlassen, die Chefs der Kompostierung und der Demontage "ausgegründet" - und ich blickte überall in den Büros in fremde, abweisende Gesichter. Nur aus einem Raum nebenan vernahm ich vertraute Stimmen: die meiner Jugendclubfrauen, die gerade im Rahmen einer Weiterbildung, heftig in gruppendynamische Prozesse verwickelt waren. Es war einer meiner letzten Akte am Tag vor dem Unfall gewesen, den Weiterbildungsantrag für meine "Frauen draußen in den Maßnahmen" auszufüllen und durch ein ausführliches und dringliches Konzept zu bekräftigen, da zuvor nach einigen Anläufen so manches schiefgelaufen und seine Einreichung vom Jugendamt verhindert worden war.
Fremd standen sie dann in der Pause in den Türen und nahmen mit abständigen Bewegungen ihre Akten, einige Bücher, Papiere und letztes "Beschäftigungsmaterial", das ich immer gesammelt und auf den Reisen über die Dörfer mit dem Kinomann verteilt hatte, für die Jugendclubs entgegen. Jede von ihnen stellte einen kleinen Kosmos der Informiertheit und Kompetenz dar, den ich in gespaltener Ergriffenheit wahrnahm. Ja, ich hatte oft gesagt, mein Job ist dazu da, mich irgendwann einmal überflüssig zu machen, und sie hatten mir  damals ängstlich unterstellen wollen, sie alleine lassen zu wollen.
Einige sagten: Wir sind uns alle fremd geworden. Keiner vertraut mehr dem anderen. Der Zusammenhalt fehlt. Jeder arbeitet vor sich hin. Es gibt Kräfte, die das Heft in der Hand haben. Bei denen haben wir nichts zu melden. Alles, was Sie erkämpft haben, gibt es nicht mehr.
Andere sagten: Wir haben in der Weiterbildung viel gelernt. Schön, daß Sie das vorher noch eingerührt haben.
Und wieder andere: Seit Sie nicht mehr dasind, fehlt es an allem..
Und andere schließlich: Haben Sie wieder Aussicht auf Arbeit? Ich verneinte, und sie antworteten: Es wird schon. Man muß damit leben. In einem Jahr haben Sie wieder Anspruch. Und wir standen und rauchten in dem kleinen Flur, schnippten die Asche in die übervolle Pyramide am Eingang.
 
Bevor ich mit meinen Kisten mit Aufzeichnungen, Fotos, Literatur, meinen wenigen privaten Dingen und kleinen, gebastelten Geschenken und Bildern der Jugendlichen die Baracke verließ, schaute ich noch einmal in den Raum nebenan, wo die Weiterbildung stattfand, in den einstigen "Hühnerstall". Er war leergeräumt. In der Mitte hatte die Schulungsleiterin ein großes Stück purpurroten Stoffes dekorativ drapiert, auf dem ein Gesteck aus getrockneten Blumen wie verloren arrangiert war, und drumherum waren die gepolsterten Stühle, die einst die Gesäße systemtragender Genossen gestützt hatten, kreisförmig aufgestellt, verstaubter und abgewetzter, als  ich sie in Erinnerung hatte.

Aschersleben, im September 1999

Zu diesem Text gibt es eine Fotoserie aus der Baracke, viele weitere Fotos „aus den Maßnahmen“ und eine Mappe voller Presseartikel.


Originalbeitrag

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