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Essay
Wo bleibt die Zeit?
Wo die Zeit bleibt - ich weiß es nicht; vielleicht verstehe ich aber die Frage auch nicht richtig. Was meint also jemand wohl, wenn er fragt: „Wo bleibt die Zeit?“
Um diese Frage, worauf ein derart Fragender hinaus will, beantworten zu können, untersuche ich zunächst, in welcher Bedeutung bzw. in welchen Bedeutungen die Frage gestellt werden kann.
Bedeutungen der Frage
Wenn ich es recht sehe, wird unsere Frage in drei verschiedenen Situationen geäußert und hat darin jeweils eine besondere Bedeutung.
Alte oder ältere Menschen können im Rückblick auf ihr Leben mit Walther von der Vogelweide (übersetzt von Peter Wapnewski) klagen:
„Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!“
(Oweh wohin entschwanden alle meine Jahre!
War mein Leben ein Traum, oder ist es Wirklichkeit?
Was immer ich glaubte, es sei - war all das etwas?)
Ohne dass man in eine Walther-Exegese eintreten müsste, liegt der Sinn der Frage auf der Hand. Hier klagt jemand über die Nichtigkeit des Lebens, ganz im Sinn des alten Kohelet, der diese Nichtigkeit des Irdischen in der Metapher „Windhauch“ (Koh 1,2) erfasst hat, woraus in der lateinischen Übersetzung vanitas ein Motiv der Barocklyrik geworden ist. An den Worten Walthers sieht man, dass die Frage hier eigentlich lautet: „Wo ist meine Zeit geblieben?“ Das Perfekt „ist geblieben“ entspricht der präsentischen enttäuschten Aussage: „Sie ist nicht da, ich habe nichts (behalten).“ [„Das Perfekt wird vor allem dann verwendet, wenn das Ergebnis oder die Folge eines Geschehens im Sprechzeitpunkt (noch) belangvoll ist.“ Duden Bd. 4, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, 6. Aufl. 1998, S. 151]
Unsere Frage, wo die Zeit bleibt, wird ebenfalls von Menschen gestellt, die vor allem im Beruf viel zu tun haben. Als Beispiel nenne ich einen Beitrag aus einem Blog (2004):
„seitdem ich inner ausbildung bin ist jetz tag gleich... und die zeit fliegt nur so an mir vorbei...
halb 7 anfangen und um halb 4 gehen... kaum sitzt man dann mal um 4 uhr zuhause liegt man morgens schon wieder im bett und hört seinen wecker... die zeit ist total am rasen... eine woche ist nix mehr... man freut sich aufs we endlich ist der freitag *peng* ist wieder montag und man sitzt im büro.
die arbeit macht mir spass darum geht auch garnet aber wo bleibt die zeit?“ user „Lebenswursttier“
Will man die Eigenart dieser Fragevariante beschreiben, müsste man sie als verwundert bezeichnen: Als ich zur Schule ging, war es anders - jetzt saust die Zeit an mir vorbei: Wo bleibt sie bloß? - Diese verwunderte Frage kann abgewandelt und präzisiert werden, wenn jemand im Trubel einmal innehält: Wo bleibt die Zeit zum Nachdenken, um das Wichtige noch vom Unwichtigen zu unterscheiden?
Wo die Zeit bleibt, wird heute auch wissenschaftlich untersucht. Die Frage bedeutet dann: Was tun die Leute den ganzen Tag, womit verbringen sie ihre Zeit? Wie lange essen und trinken sie, wie lange arbeiten sie im Beruf, wie lange im Haus? Wie lange sitzen sie vor dem Fernseher, wie lange schlafen sie? Und alle Antworten auf diese Fragen kann man nach Akademikern und Arbeitslosen, nach Protestanten und Pensionären, nach Frauen und FDP-Wählern sortieren, korrelieren, interpretieren. Zuletzt ist eine derartige Studie 2001/02 in Deutschland durchgeführt und im Jahr 2003 veröffentlicht worden; jetzt steht sie als pdf-Datei allen Interessenten zur Verfügung.
Antworten auf die Frage
Was kann man auf die Frage, wo die Zeit bleibt, antworten? Am leichtesten fällt die Antwort auf die Frage in der dritten Bedeutung, weil die Forscher nur zu untersuchen brauchten, was andere oder alle oder Otto, der Normalverbraucher, mit ihrer Zeit tatsächlich anfangen; das kann man nämlich messen, aber die Ergebnisse betreffen den Forscher persönlich nicht. Vielleicht kann man als Bürger bedenklich finden, dass wenig gelesen wird, oder als Politiker überlegen, wie man die Arbeitszeit erhöhen oder absenken kann; aber das sind doch eher Probleme, mit denen man sich in der Distanz des Reflektierenden befasst, es berührt einen selbst nicht.