Wo bleibt die Zeit?

Essay

Autor:
Norbert Tholen
 

Essay

Wo bleibt die Zeit?

Wo bleibt also die Zeit? Sie bleibt in gewisser Weise nirgends, weil sie selbst nichts anderes als die unmerklich-merkliche Veränderung der Dinge ist, also ein Prozess, der nicht irgendwo ist, sondern der sich an etwas vollzieht, aus seiner eigenen Kraft oder in der Logik des Daseins von Lebewesen und Dingen. Man könnte auch sagen, die Zeit bleibe in der Einsicht erhalten, dass die Dinge sich geändert haben, wie man in jedem Rückblick feststellen kann; diese Einsicht kann ich heute gewinnen oder als längst verstandene neu begreifen - in einem weiß ich dann, dass sie immer gilt. Die Zeit bleibt also darin oder dadurch, dass es so ist, dass die Dinge sich unmerklich-merklich verändern. Die Kopula „ist“ des vorletzten dass-Satzes bezeichnet das Bleiben, der zweite dass-Satz die Zeit; beide zusammen zeigen an, wo die Zeit bleibt.
So ist es, und es ist gut so; aber man muss weise sein, um es zu begreifen und bejahen zu können, wie im Märchen „Der weise Kaiser Suleiman“ [Wie das Leben durch die Welt wanderte. Märchen der Menschen von Tod und Leben. Hrsg. von Dietrich Steinwede. 1980, S. 36-38] erzählt wird: Der Kaiser hat das Wasser des Lebens in der Hand und steht vor der Entscheidung, ob er es trinken (und sich damit dem Gesetz der Zeit entziehen) soll oder nicht. Ein General und ein Kaufmann raten ihm zu, weil er die Erfolge seines Tuns, militärische Siege und Handelsgewinne, unendlich anhäufen könnte; aber ein weiser Bauer rät ihm ab, weil der Kaiser, als Mensch von allen Lieben und Freunden getrennt, einsam vor sich hin leben würde. So gibt der Kaiser der Erde als ganzer den Zaubertrank, damit sie lebt, und beugt sich selbst unter das Gesetz der Zeit. Dass dieser Entschluss die Weisheit eines Menschen ausmacht, wird im Märchen erzählt.

Wie gut es sein kann, unter dem Gesetz der Zeit zu stehen, also Erlebnisse nur als vergangene behalten zu können, zeigen die Fälle jener Menschen, die das nicht können. Der Schriftsteller Najem Wali ist in den Gefängnissen Sadam Husseins gefoltert worden; er schreibt: „Die Folter kann noch so kurz sein - das Vergessen dauert Jahrzehnte.“ [Wali, Najem: Der Schlächter von Bagdad. SZ, 19. Oktober 2005, S. 15] Manche Menschen können nicht einmal auf Vergessen hoffen, weil sie ihre Leiden nicht als vergangen erleben können; sie sind diejenigen, die uns am überzeugendsten zeigen, wie gut es ist, unter dem Gesetz der Zeit zu stehen.
Wenn Menschen erlittene Qualen einfach nicht vergessen können, spricht man von einem Trauma. Sie wachen etwa nachts auf und erleben wieder ihre Schrecken. Konstanzer Forscher haben nun versucht, mit einer neuen Therapie traumatisierten Flüchtlingen zu helfen. [Rehmann, Heiko: Worte, die das Gehirn verändern. SZ, 21. Oktober 2005, S. 10. Ich halte mich im Folgenden an den Bericht Rehmanns. ] Damit man diese Therapie versteht, muss man das Modell der Traumatisierung (im medizinischen Jargon: der posttraumatischen Belastungsstörung) kennen: Im Gehirn wird ein Geschehen mitsamt dem Kontext und dem chronologischen Ablauf an einer Stelle (im Hippocampus) gespeichert, die emotionalen Erlebnisse, etwa die Angst, dagegen an einer anderen Stelle (in der Amygdala); den Zusammenhang zwischen beiden Stellen oder Inhalten stellt normalerweise der frontale Cortex her. Unter extremer Bedrohung können nun Stresshormone die Funktion des Hippocampus blockieren, sodass die Ängste nicht einem vergangenen Geschehen zugeordnet werden können, sondern aus kleinstem Anlass den Menschen als gegenwärtig überschwemmen. [Man kann das auch in einem Magnetenzephalogramm sichtbar machen; aber das braucht uns hier nicht zu interessieren.]

Wichtig für unsere Überlegung (und noch wichtiger für die Traumatisierten) ist nun, dass in einer neuen Therapie („Narrative Expositionstherapie“) die Menschen an ihre Erinnerungen herangeführt werden, indem sie auch die kleinsten Einzelheiten des Erlebten erzählen sollen. Durch die Konfrontation mit den eigenen Erinnerungen werden die Patienten dann befähigt, das Geschehene autobiographisch einzuordnen: „Die Emotionen sollten in der Vergangenheit verankert werden.“ Die Patienten können so im Erzählen erleben und dadurch begreifen, dass alle ihre leidvollen Erlebnisse vorbei sind.
Oder um ihre mühsam erworbene Einsicht mit den Worten unserer Frage zu formulieren: Wo bleibt die Zeit? Sie vergeht - zum Glück!

 

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