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Interview
"Es werden Akzente gesetzt, aber wirklich Neues sehe ich nicht" - Axel Kutsch im Interview mit Gerrit Wustmann
Dieser Tage erschien mit „Versnetze_drei“ der dritte Band von Axel Kutschs umfassendem Übersichtswerk über die deutschsprachige Gegenwartslyrik. Im Gespräch mit Gerrit Wustmann gibt der Dichter und Herausgeber Einblick in seine Arbeit und die Situation der Dichtung heute.
Gerrit Wustmann: „Begabung überall“ ist ein Pressezitat, das mehrmals im Vorwort zum gerade erschienenen Band „Versnetze_drei“ auftaucht. Ist denn bei aller Begabung vor allem unter den jüngeren LyrikerInnen auch wieder ein wirklich großes Talent a la Brinkmann oder Kling in Sicht?
Axel Kutsch: Das kann man noch nicht sagen. Es sind einige sehr junge Autoren dabei, deren Entwicklung noch abzuwarten ist. Beispielsweise von dem 1992 geborenen Leander Beil ist einiges zu erwarten, auch andere junge Dichter sind gut, aber ob sie die Höhe eines Rolf Dieter Brinkmann oder Thomas Kling erreichen, das ist noch nicht absehbar.
Gerrit Wustmann: Welche Strömungen und Stilrichtungen zeichnen sich denn derzeit ab?
Axel Kutsch: Es ist eine stilistische Vielfalt zu erkennen. Die Jüngeren arbeiten viel mit Verfremdungseffekten und haben sich auch wieder der Naturlyrik angenähert, allerdings in anderer Form als ein Loerke oder Lehmann. Ihr Naturempfinden ist komplexer. Dann gibt es Autoren, auch die Älteren, die eine bodennahe aber deswegen keineswegs simple Lyrik schreiben.
Gerrit Wustmann:Welche Rolle spielt die Kunstform Lyrik heute in Deutschland?
Axel Kutsch: Sie spielt eine untergeordnete Rolle. Es wird wenig Lyrik gelesen, aber viel Lyrik geschrieben. Wenn jeder Lyriker pro Jahr einige Bände kaufen würde, sähen vermutlich auch die Verkaufszahlen besser aus. Die Öffentlichkeit nimmt eher Slampoetry-Veranstaltungen wahr, die aber in erster Linie der einfachen Unterhaltung dienen. In anderen Ländern, beispielsweise in Südamerika oder im arabischen Raum sieht das anders aus. Auch in Diktaturen genießt die Dichtung eine ungleich höhere Aufmerksamkeit, nicht zuletzt weil die Literatur von den dortigen Machthabern als Gefahr angesehen und auch zensiert wird. Bei uns ist die politische Relevanz von Lyrik nicht mehr gegeben. Bei uns spielt sich Poesie gesellschaftlich im luftleeren Raum ab.
Gerrit Wustmann: Weshalb ist das so? Immerhin beruft sich jedermann immer gerne darauf, im Land der „Dichter & Denker“ zu leben…
Axel Kutsch: Vielleicht liegt es daran, dass Lyrik schwieriger geworden ist. Gerade in der jungen Dichtung geht der Trend oft zur Germanistenlyrik. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Lyriker für Lyriker schreiben und nicht für ein breiteres Publikum. Ich meine das erstmal nicht negativ, aber eine Lyrik, die stark referentiell arbeitet, ist eben schwerer zugänglich für Menschen, die sich in der Literatur nicht oder nur wenig auskennen. Und die verzichten dann lieber. Auf der anderen Seite muss man ein Gedicht nicht unbedingt verstehen, um es genießen zu können – die Sprache, die Metaphern, den Rhythmus.
Gerrit Wustmann: Nach welchen Kriterien hast Du die Autoren bzw. deren Texte für „Versnetze_drei“ ausgewählt?
Axel Kutsch: Mir kam es darauf an, einen größtmöglichen Überblick zu vermitteln – von ganz jungen Autoren wie Leander Beil zu der ältesten Generation, für die Hans Bender und Karl Otto Conrady stehen. Dasselbe gilt stilistisch: Die Anthologie reicht von leicht zugänglicher bis zu hochkomplexer, schwieriger Lyrik. Auch einfache Lyrik kann gut sein – siehe etwa Brecht oder auch Heine. Auch Rolf Dieter Brinkmann hat mitunter leicht zugängliche Gedichte auf hohem Niveau geschrieben.
Gerrit Wustmann: In den USA sind Creative-Writing-Studiengänge längst etabliert, sie werden dort in der Regel von etablierten Autoren unterrichtet, und auch ihre Schüler können sich mitunter sehen lassen. In Deutschland gibt es das auch seit einiger Zeit, und zunehmend drängen die Absolventen aus Hildesheim und Leipzig auf den Buchmarkt. Studierte versus unstudierte Autoren: Bringt der akademische Einfluss mehr Qualität?
Axel Kutsch: Die Studierten sind nicht unbedingt besser. Sie haben ein gutes handwerkliches Niveau. Aber Brinkmann, Kling, Mayröcker kann man nicht werden, das ist man. Das ist eine Frage des Talents, weniger eine Frage der Ausbildung. Bei den Leipziger und Hildesheimer Absolventen sehe ich ein gutes Niveau, aber das Herausragende vermisse ich. Mir fehlen zur Zeit Eruptionen, wie sie von genialen Autoren hervorgebracht wurden; von Rimbaud beispielsweise, von einigen Expressionisten oder in der jüngeren Zeit eben Brinkmann, Kling oder dem frühen Durs Grünbein. Derartige Talente habe ich in der heutigen jungen Generation noch nicht entdeckt.
Gerrit Wustmann: Gut zwanzig Jahre nach „Wortnetze III“ erscheint nun „Versnetze_drei“. Welche Bilanz ziehst Du, gibt es wesentliche Entwicklungen innerhalb der aktuellen Poesie und seit der letzten Reihe, und kann man auf einen vierten Band hoffen?
Axel Kutsch: Während der Arbeit an „Versnetze I – III“ hat sich relativ wenig entwickelt, aber davon kann man auch nicht ausgehen. Es sind einige interessante junge Autoren hinzugekommen, und auch die ältere Generation liefert weiterhin sehr lesenswerte Gedichte. Innovative neue Formen sind nicht in Sicht. Die Ismen sind meiner Meinung nach abgegrast, und der letzte, der wirklich neue Impulse gebracht hat, war Kling. Um es mit Ernst Jandl zu sagen: Wir sind die Autoren der kleinen Verschiebungen. Es werden Akzente gesetzt, aber wirklich Neues sehe ich nicht. In den zwanzig Jahren seit „Wortnetze“ hat sich schon etwas getan. Zum einen war die Lyrik damals generell weniger hermetisch, und die Stimmung war eine andere. Es bestanden noch die Nachwehen der 70er und 80er Jahre, es wirkte die Wende, es bestand, im Gegensatz zu heute, auch noch eine politische Angst am Ende des Kalten Krieges, die durchaus spürbar war. Ob ich einen vierten Versnetze-Band machen werde, weiß ich im Moment noch nicht. Mal schauen…
Das Interview erschien als Originalbeitrag auf cineastentreff.de
Axel Kutsch (Hg.): Versnetze_drei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart. Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2010.