Wo bleibt die Zeit?

Essay

Autor:
Norbert Tholen
 

Essay

Wo bleibt die Zeit?

In der zweiten Bedeutung wird unsere Frage gestellt, wenn die Zeit auffällig schnell vergeht; die Frage wird oft mit der Erklärung verbunden, dass man beim besten Willen nicht weiß, wann man dies oder jenes noch erledigen soll, etwa mit seinen Kindern spielen oder sich politisch betätigen, das „gute Buch“ lesen oder Sonstiges tun könnte. Da gibt es jedoch genügend Ratgeber, welche kluge Antworten wissen, die sich im Stichwort „Zeitmanagement“ bündeln lassen: „Zeitmanagement dient dazu, die eigene Zeit und Arbeit zu beherrschen, statt sich von diesen beherrschen zu lassen. Es geht allerdings nicht darum, noch mehr zu arbeiten, sondern die anstehenden Aufgaben schneller und effizienter zu erledigen. So gewinnen Sie Zeit, die Sie frei nutzen können, also Freiraum für Freizeit oder Zeit, diesen Beitrag zu lesen.“ AOK news 2005.

Die Strategien dieses Zeitmanagements lassen sich so umschreiben:
1. Planung schafft Zeit.
2. Setzen Sie Prioritäten!
3. Bündeln Sie Ihre Tätigkeiten und sagen Sie auch mal „Nein“!
Man wird sicher weitere Strategien und Tipps finden können, aber das ist methodisch, also für uns jetzt nicht von Bedeutung; wichtig ist, dass es eine Abhilfe für die Zeitknappheit gibt, wie es ja auch für den Schachspieler Tipps gibt, wie er die Phase der Zeitnot vor der Zeitkontrolle vermeiden kann, ohne dass er mehr als zwei Stunden Bedenkzeit für die ersten 40 Züge bekäme.
Wie sich aus dem bekannten Paradox der Wahrnehmung der Zeitdauer (Zeit vergeht schnell, wenn man viel erlebt, und scheinbar langsam, wenn nichts passiert) ergibt, können aber auch ereignisarme Zeiträume, die den Betroffenen entsetzlich lang vorgekommen sind, Menschen zur Frage veranlassen: Ja, wo ist denn bloß die Zeit geblieben? Darauf könnte man ihnen antworten: Unternimm doch etwas, dann weißt du wenigstens, wo deine Zeit geblieben ist!
Am schwersten ist die Frage, wo die Zeit bleibt, zu beantworten, wenn sie als Klage im Sinn Walthers von der Vogelweide gestellt wird. Was kann man einem Menschen, der im Rückblick auf sein Leben die Nichtigkeit aller seiner Unternehmungen und Bestrebungen erkennt, zum Trost glaubhaft sagen? Kohelet wusste noch Rat: „Iss freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein“ (Koh 9,7), vor allem in der Jugend - und achte ansonsten Gott und vertraue auf den Ewigen! Kohelet wusste nämlich:
„Wer ständig nach dem Wind schaut, kommt nicht zum Säen,
wer ständig die Wolken beobachtet, kommt nicht zum Ernten.“ (Koh 11,4)

Wo bleibt die Zeit nun wirklich?
Man kann diese Phalanx der Antworten Kohelets durchbrechen, wenn man einwendet: Kohelets Ratschläge mögen dem jungen Menschen nützen - erst der alte kann erkennen, dass auch fröhliches Schmausen letztlich nichtig ist.
Wenn man sich mit Kohelets Weisheit nicht zufrieden geben will, scheinen mir nur zwei weitere Strategien übrig zu bleiben:   
a) Man setzt mit Sokrates-Platon schon für die Jungen neue Maßstäbe des Handelns und Lebens; man stellt also über die Freuden des Lebens das Recht-Leben, weil man dessen bleibenden Wert erkennen kann (Platon: Kriton 54b); dieser Maßstab wird dann mehr oder weniger bildhaft als Teilhabe am Ewigen, als Unsterblichkeit der Seele ausgelegt. Es wird dabei eine zweite Welt konstituiert: die des Wahren, des Guten, des Unvergänglichen; Aufgabe des Menschen ist es dann, aus der Welt der Meinungen, der Begierden und des Vergänglichen sich zu lösen und Zugang zur wahren Welt zu finden. - Das ist das Konzept der klassischen Philosophie, die von ihren Vertretern als philosophia perennis gepriesen wird: Die Zeit ist in der Ewigkeit Gottes aufgehoben; dort ist immer „jetzt“, Ewigkeit ist das beständige JETZT (nunc stans). Diese Philosophie, das Denken Platons und Aristoteles‘ und ihrer Nachfolger, hat sich weit über tausend Jahre mit dem christlichen Glauben verbinden lassen.   
b) Man setzt mit der modernen Philosophie, die ich hier abkürzend „Philosophie nach Nietzsche“ nennen möchte, auf die Natürlichkeit des Menschen und nimmt die hochgesteckten Ansprüche an sich und an das Leben zurück [Dass wir keine unsterbliche Seele haben, ist ein Gewinn: Morgenröte Nr. 501. Dass es keine letzte Norm gibt, ist ein Gewinn: Die Fröhliche Wissenschaft, Nr. 143.], um sich auf humane oder „weltliche“ (statt überweltliche) Weise mit der Welt arrangieren zu können. Die Überwelt, die„wahre Welt“ der klassischen Philosophie, wird dann als eine Scheinwelt entlarvt, „das Ewige“ bleibt eine vergängliche Konzeption vergänglicher Menschen.

Eine der vielen Möglichkeiten, die Frage, wo die Zeit bleibt, und die damit verbundene Klage aufzugeben: also nicht tröstend zu beantworten, sondern radikal aufzugeben, ist in einem Gedicht Ina Seidels in gehobenen Worten formuliert:
„Unsterblich duften die Linden -
Was bangst du nur?
Du wirst vergehn und deiner Füße Spur
Wird bald kein Auge mehr im Staube finden.
Doch blau und leuchtend wird der Sommer stehn
Und wird mit seinem süßen Atemwehn
Gelind die arme Menschenbrust entbinden.
Wo kommst du her? Wie lang bist du noch hier?
Was liegt an dir?
Unsterblich duften die Linden -“
[„Gesammelte Gedichte“, 1937; die erste Fassung ist 1927 erschienen.]

Denkt man diesen Gedanken zu Ende, dann gibt es keinen Grund mehr, über die Nichtigkeit des Lebens zu klagen; dann drückt die Frage, wo die Zeit bleibt, nicht mehr existenzielle Unruhe aus. Sie kann auf eine neue Weise gestellt werden, weil wir eine Distanz zu den uns bedrängenden Lebensproblemen gewonnen haben, die man für einen unverstellten Blick auf die eigene Vergangenheit braucht. Methodisch ist das so, als wenn wir einer Mücke zusähen, wie es in Gottfried Kellers Gedicht „Die kleine Passion“ das erzählende Ich vormacht, auf dessen Buch sich eine Mücke niedergelassen hat:
„So ließ den Band ich aufgeschlagen
Und sah erstaunt dem Sterben zu,
Wie langsam, langsam ohne Klagen
Das Tierlein kam zu seiner Ruh.“

Die Zeit vergeht
Was sieht man, wenn man derart distanziert auf die Welt und auf sein Leben schaut und fragt, wo die Zeit bleibt? Man sieht, dass sie das „tut“, was ihr eigentümlich ist: Sie vergeht. Im Gedicht wie in der Spruchweisheit wird ihr Vergehen bildhaft verstanden; die Metapher des Tagesablaufs liegt der Frage der Sphinx zugrunde, welche Ödipus beantworten konnte: dass es für das Wesen Mensch einen Morgen, einen Mittag und einen Abend gibt; danach ist der Tag zu Ende, das ist normal. Oder es wird in der Metapher der Jahreszeiten beschrieben, wie nach dem Sommer der Herbst kommt - er kommt von sich aus; er zeigt als Zeit der Ernte, aber auch des Welkens zugleich das Gesetz des Wandels im Ganzen und damit der Vergänglichkeit des Einzelnen auf:
„Was nun von Halm zu Halme wandelt,
Was nach den letzten Blumen greift,
Hat heimlich im Vorübergehen
Auch dein geliebtes Haupt gestreift.“
(Theodor Storm: Im Herbste)

Wie wirkt die Kraft des Herbstes? Sie wirkt „heimlich im Vorübergehen“; kurz darauf sagt der Sprecher, der Sonnenschein sei „unmerklich“ vergangen (V. 21 f.). Aber beide Aussagen dürfen nicht allzu wörtlich genommen werden: Man bemerkt auf einmal, dass sich etwas verändert hat, ohne dass man es als solches gemerkt hätte; aber man bemerkt es doch, sonst könnte man nicht davon sprechen. Man hat nur nicht darauf geachtet und ist deshalb vom Altern überrascht, obwohl man alle Veränderungen bemerken konnte, also die zeitliche Natur der Dinge und der Menschen immer erkennen kann.