Er ging zu Andrea Doria

Essay

Autor:
Tobias Roth
 

Essay

Er ging zu Andrea Doria - Die permanente Reform an den deutschen Universitäten

Solche Schreckensmeldungen und Horrorgeschichten sind inzwischen recht bekannt geworden, die Berichte von posttraumatischen Belastungsstörungen aus B.A.-Studiengängen werden allmählich laut. Mit dem, was vor, in und nach der Bologna-Reform auf die Fahnen der Universität geschrieben und auf die Wappen der Institute gemalt wurde, hat das alles nichts mehr zu tun: die Diskussion um die Gegenwart und Zukunft der Universitäten gehört zu den müßigsten unserer Tage: Weil die Lösung so einfach ist. Es fehlt einfach nur Geld, das auf den radikalen Anstieg der Studentenzahlen zu reagieren hat. Obwohl sich der Fetisch Kulturnation im Diskurs hartnäckig behauptet, will es offensichtlich niemand bezahlen. Fraglich bleibt da sogar, ob man zerstörerische Intentionen überhaupt unterstellen soll, und wem. Es drängt sich auf, die großen Plattitüden auszupacken, denn es braucht keinen verschwörungstheoretischen Unterton mehr, nicht einmal eine mit schreckenerregenden Fallbeispielen garnierte Kapitalismuskritik, um zu fragen: Wer will denn schon denkende Menschen? Die könnten gar einmal beharren und sich nicht so lange mit dem nächsten und nächsten hinhalten lassen, bis sie mit dem Nächstbesten vorlieb genommen haben.


Er ging zu Andrea Doria.
Dieser Satz lautet korrekt: „Ich geh zum Andreas.“ Er stammt von Friedrich Schiller und findet sich in der Verschwörung des Fiesco zu Genua. Es ist der letzte Satz des „republikanischen Trauerspiels“.
Was bisher geschah: In Genua treibt der hochmutige, grausame Gianettino Doria sein tyrannisches Unwesen, bedeckt und ermächtigt von seinem Onkel Andrea Doria. Dieser ist ein milder und edler Herrscher, der Freiheit und Frieden sicherstellt, und keinen Makel trägt, abgesehen von diesem unerträglichen Gianettino. Der junge Gewaltherrscher soll beseitigt werden, der alte Andrea wird als Kollateralschaden eingerechnet. Fiesco, Graf von Lavagna, stellt sich an die Spitze der republikanischen Verschwörung, die den Umsturz herbeiführen soll. Im Großen und Ganzen schnurren die Maschinen und Intrigen zu Gunsten der Verschwörer, doch trunken von der Gunst der Fortuna und des Volkes plant Fiesco bald, sich selbst zum Fürsten erheben zu lassen. Das ist dem alten, hartgesottenen Republikaner Verrina naturgemäß ein Dorn im Auge. In der Nacht der entscheidenden Straßenschlacht stirbt Gianettino Doria, Andrea entschlüpft den Dolchen, der triumphierende Fiesco lässt sich als Herzog ausrufen, und wird daraufhin seinerseits von Verrina ermordet. Der alte Doria bleibt Herr von Genua. Soweit der Schnelldurchlauf. Verrina hat nun seinen Kumpanen gerade berichtet, dass Fiesco ertrunken ist. Erstaunen und Entsetzen schlagen ihm entgegen. Ertrunken? Verrinas lakonische Replik beschließt das Trauerspiel: „Ertränkt, wenn das hübscher lautet – Ich geh zum Andreas.“ Und rasch fällt der letzte Vorhang.

Was soll dieser Satz heißen? Da aus dem Gang des Stückes heraus feststeht, dass Verrina mit diesem Satz keinen weiteren Mord ankündigt, ist der Gang zu Andrea Doria zumeist als Resignation gelesen worden. Der alte Kämpe hängt das revolutionäre Handwerk an den Nagel, und geht, um bei seinem alten und neuen Fürsten Befehle zu hören. Der Satz ist als bitterer Verrat an der republikanischen Sache interpretiert worden, umso bitterer, als ihn der sturste Vertreter dieses Ideals begeht. Als würde er gehen, um zu fragen, wohin er nun nach offener und gescheiterter Empörung exiliert werden wird. Gewiss. Aber bereits ein Blick in das Personenregister des Stücks legt nahe, dass hier eine tiefere Resignation am Werke ist: Andrea Doria steht als Greis von 80, Verrina als alter Mann von 60 Jahren auf der Bühne. Beide haben ihre Lebenserwartung schon lang überschritten, ob man nun den Maßstab der Mitte des 16. Jahrhunderts anlegt oder den des Jahres 1782, in dem Schiller dieses, sein zweites großes Stück schrieb.
Was soll dieser Satz heißen, was im Stück und was hier? Es ist mehr als die Resignation Verrinas, die ihn von den bis dahin so vehement und blutig vertretenen Ideen abrücken lässt: es ist die völlige Verzweiflung an der Sache des Umsturzes, der Erneuerung selbst, egal wofür und wogegen vorgegangen wird. Er sah das Los der Revolution und der Revolutionären im Zeitraffer, er war dieses Zeitraffer selbst: nach erfolgreichem Umsturz blieb Fiesco für vielleicht eine Viertelstunde Herzog und wurde wiederum gestürzt. Die beiden alten Herren Doria und Verrina werden sich nun in Resignation hinsetzen und den Tod erwarten. Kaum dass Andrea in der Gruft liegt, wird es wieder losgehen, das wissen beide, und dass es sich zum Schlechteren wenden wird, ist begründete Vermutung: mit dem Ende des Stückes sind alle jungen Hoffnungsträger tot oder ausgewandert. Die Freiheit der Stadt Genua wird sich im herben Magensaft etwaiger bereitstehender Großreiche auflösen und verdaut werden.

Indem Verrina zu Andreas geht, stellt er sich also in eine Reihe mit jener alten Frau, die im Tempel von Syrakus für das Leben des schrecklichen Tyrannen betet, den jedermann in die Hölle wünscht. Ein Gedicht August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben erzählt diese kleine Episode, in der sich mehr und mehr auch die heutigen Studenten wieder finden. Eine alte Frau betet und hofft, dass dem Tyrannen ein langes Leben beschieden sei (gemeint ist wohl Dionysios I. von Syrakus, und der lebte immerhin von 430 bis 367 vor Christus). Der Tyrann selbst beobachtet diese Szene, und fragt neugierig, was das zu bedeuten habe, denn auf Untertanenliebe rechnet er offensichtlich selbst nicht mehr. Die Frau gibt eine so überraschende wie abgeklärte Antwort. Zwar hätte sie als junges Mädchen noch um einen besseren, milderen Herrscher gebeten, aber seit sie mit den fortschreitenden Jahren ihres Alters erleben musste, dass jeder nachrückende Tyrann seinen Vorgänger an Brutalität und Rücksichtslosigkeit noch übertraf, betet sie, dass wenigstens der jetzige noch lange bleibe, wer und wie er auch sei. Sie weiß also um eine grundlegende Eigenschaft des Fortgangs. Wenn einmal die Zündladung der Gewalt gelegt ist, erbt sie sich weiter: liegt das Augenmerk auf diesem Grundzug, wird jede Änderung als Schein entlarvt. Ein äußerst unschön klingendes, junges deutsches Wort, das das Medusenhaupt des Inhalts gleichsam schon in seinem Klang ausstellt, heißt: Verschlimmbesserung. Dann macht es keinen Unterschied mehr, wer in Syrakus oder Genua als nächstes herrscht, allen Protesten und Umstürzen zum Trotz, die Spirale nach unten ist eröffnet. In genau diesem Punkt macht es keinen Unterschied mehr, welche Nachkorrekturen der nächste Gipfel von Bildungsministern und ähnlichen Organen ergeben wird. Die Weichen sind gestellt, von der ersten Reform an, und die Gewalt, die der Universität und ihrer geistesgeschichtlichen Funktion angetan wurde, wird sich fortpflanzen. Das Erbgut lautet auf Sparmaßnahme und Beschleunigung, auf eine Nutzbarmachung im Dienste einer zählbaren Zweckrationalität. Und die Nutzbarmachung des Bodens beginnt bekanntlich damit, dass beseitigt wird, was dort von alleine wuchs. Jenes Erbgut wird jede weitere Variante, wird jeden weiteren Phänotyp von Studienordnung prägen, solange nicht diese Stoßrichtung als Ganzes in Frage gestellt wird. Gespart wird so durchaus. Vielleicht aber wird man sich in einiger Zeit die Augen reiben, was man eingespart hat, denn es war nie nur Geld, und es wird sich auch in Geld nicht mehr zählen oder gar zahlen lassen.