Kolumne

POESIEFESTIVAL BERLIN. DREI. FADE OUT.

Mit dem Beginn der neuen Woche hat sich in der Akademie der Künste so etwas wie geschäftiger Festivalalltag eingeschlichen. Weniger Besucher*innen sind da und die hitzige Luft macht alles ein wenig langsamer und träger und schläfriger.

Am Montag und Dienstag feiert das Format Drei D Poesie mit der sechsten Ausgabe sein Finale. 2017 und 2018 sind insgesamt 13 neue Produktionen entstanden, bei denen Künstler*innen aus Poesie, Tanz und Musik in unterschiedlichsten Formen zusammen kamen und ein gemeinsames Bühnenstück entwickelten. In den letzten zwei Kooperationen stehen heute Gedichte von Kinga Tóth und Érica Zíngano im Mittelpunkt. Die Bühne im großen Saal ist zu beiden Seiten geöffnet und die Zuschauerränge der jeweils gegenüberliegenden Seite sichtbar. So entsteht ein offener Bühnenraum, der auch tatsächlich über die Bühnenbretter hinaus als solche genutzt wird. Kinga Tóths Gedichte „Lied von another Maria“ und „Wal“ drehen sich um Körper, um Körperinneres, um Eingeschlossensein, um ein Orchester mit Kindergarten im Walleib. Mit- oder Nachtlesen ist hier unbedingt erforderlich, Kinga Tóths Stimmbewegung auf dieser körperinneren Bühne ist ein leises Schwappen und Flüstern und vom gegenüberliegenden Schlagzeug (Alexandre Babel) im Zwiegespräch übertönt. In der Mitte der Bühne das Herzstück: Ein Gerüst aus unterschiedlich großen Blechbecken, die ja tatsächlich körperlich und klanglich zum Einsatz kommen. Der Tänzer Julian Weber zieht sehr lange ein Seil hinter sich her und zirkuliert schließlich in der Bühnenmitte um das Beckengerüst herum, wickelt das Seil im Vorbeigehen oberhalb der runden Klangkörper entlang und erzeugt so, mit dem gleitenden Ende des Seils, ein tönendes Schwingen. Musikalisch unterstützt wird die Compagnie durch die Flötistin Rebecca Lenton und den Bassklarinettisten Theo Nabicht sowie Martin Hiendl, der am Synthesizer mischt. Die starke Verbindung der Textmotive in dieser szenischen Umsetzung – man beobachte und höre das Knatschen dieser knallorangen Plastikhandschuhe zu den Anfangszeilen von „Wal“

„im walmagen 3d plastikbojen
werden auf die adern gebunden
auf dem darmfell wird das rohr
schwingen gelassen
ttdd
mmrr“

– steht im Kontrast zu der zweiten Inszenierung „Let us gather for no-thing“ mit leerer Bühne, bei der das Ausgangsgedicht von Érica Zíngano nicht einmal gesprochen wird. Vielmehr scheint es als Partitur für die musikalisch-tänzerische Umsetzung von Ana Laura Lozza und Tian Rotteveel zu dienen. In rhythmischen Anordnungen von Synchronisation, Überlagerung und Verschiebung bewegen sich die Tänzer schrittweise mit festen Schuhen über den Bühnenboden, begleitet von einer Art Herzklopf-Klang, der sehr schnell in den eignen Körper übergeht. Im Programmheft ist folgender Text nachzulesen, hier der Anfang von „brief an adília“, ins Deutsche übertragen von Ann Cotten:

„adília,
    welches dieser sentenzen wäre die beste?

(       )    die literatur hat dich ins heim gebracht
    und dich aus dem exil gerettet

(       )    die literatur hat dich aus dem heim gerettet
    aber dich nicht ins exil gebracht

(       )    die literatur hat dich ins heim gebracht
    aber dich aus dem exil gerettet
    
(       )    die literatur hat dich aus dem heim gerettet
    und dich ins exil gebracht“

Im anschließenden Gespräch beschreibt Kinga Tóth die Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen als logische Konsequenz der dichterischen Arbeit, bei der das poetische Sprechen und Schreiben gar nicht anders als unter Einsatz von Körper und Klang entstehen könne. Die Aufführung in einem Rahmen wie Drei D Poesie sei somit die Fortführung der beim Schreibprozess sowieso schon vorhandenen körper- und klanglichen Ausdrucksformen und in jedem Fall ja auch der historische Ursprung lyrischen Sprechens, nämlich Körper und Klang werdende Sprache.

Zum Runterkühlen um halb zehn kann man, wenn man schnell ist, nach dem Gespräch noch einen Blick in den großen, zum Kino verwandelten, Saal werfen. Hier werden Verfilmungen der Gedichte von Brigitta Falkner, Robert Lax, Mina Loy, Ottar Ormstad und Jörg Piringer zur Aufführung gebracht. Und im Mittelpunkt stehen natürlich auch hier wieder die Formen konkreter Poesie und ihrer ganz eigenen Art der filmischen Inszenierung: Die Buchstabenoberfläche dient hier nicht selten als Protagonistin für Bildwelten, die hauptsächlich mit Mitteln des Digitalen visualisiert werden.

Sleep.
Wake up.
Next day.
Mittwoch Abend.

Und also noch einmal Luft holen für den nächsten und letzten Festivaltauchgang. Heute mit Versschmuggel und Dichterabend.

Während wir die letzten Tage so schön im Festivalgetummel in den wunderschönen Räumen der Akademie der Künste versunken sind, haben zwölf Dichter*innen aus Tschechien und Deutschland in sechs Tandems und begleitet von je einem*r Sprachmittler*in sich gegenseitig übertragen. Das Versschmuggel-Prinzip, das sich schon über Jahre bewährt, verknüpft die Methode der Nachdichtung mit der der Übersetzung: In Austausch miteinander werden die sprachlichen Gedichtgelände erkundet und überragen, die der eigenen Zunge gänzlich fremd sind. Durch die intensive Zusammenarbeit gerät ins Gespräch, was sonst oft unter der (Text-)oberfläche bleibt, nämlich die Entstehungsgründe für jede einzelne Zeile, für jedes Wort. Und manches Mal scheint es plötzlich notwendig, einen Vers in einem eigentlich schon fertigen Gedicht zu ändern, weil sich im Gespräch Ungenauigkeiten und Zweifel am „richtigen“ Ausdruck ergeben haben.

Im Poesiegespräch mit Steffen Popp, Milan Děžinský, Jan Škrob und Marie Šťastná wird zunächst ein Blick auf die tschechische Poesielandschaft geworfen – und der ist zugleich erschreckend und hoffnungsfroh: Vor etwa fünf Jahren kam es in Tschechien zu einer Debatte, bei der die tschechischen Dichter*innen ihre Rolle als autonome Kunstschaffende in einer gesellschaftlichen und politischen Landschaft neu verorteten. Angefacht von dieser Debatte entstehen nun langsam Strukturen, die Autor*innen helfen, in der kulturellen Landschaft Fuß zu fassen und ernst genommen zu werden. Lesungshonorare sind längst (noch) nicht selbstverständlich, Stipendien und Literaturhäuser kaum zu finden –  Autor*innen in Tschechien erarbeiten sich erst mühsam das Selbstbewusstsein, ihr Schreiben vom Hobby zur künstlerischen Arbeit zu wenden und gleichermaßen gesellschaftlich entsprechend wahrgenommen zu werden.

In der anschließenden Lesung stellen die Dichtertandems ihre Ergebnisse aus den vergangenen Tagen stichprobenartig vor. Pünktlich zur Leipziger Buchmesse im Frühjahr 2019 wird im Wunderhorn-Verlag wieder eine Anthologie zu diesem VERSschmuggel erscheinen. Es wäre aussichtslos, über alle poetischen Stimmen dieses zwie-sprachigen Abends angemessen zu berichten. Vielleicht kann man aber damit beginnen, dass bei dieser Lesung eine Dynamik entsteht, die die gemeinsame Gedichtproduktion und -rezeption als Prozess wunderbar wieder aufnimmt. Wahrscheinlich ist es keine Absicht, dass beinahe alle Paarungen dieses Abends die Auskunft darüber verschweigt, wer der beiden Dichter*innen nun Urheber*in des einmal deutsch, einmal tschechisch gelesenen Textes ist. Deutlich an dieser Vermischung und Überlagerung von Eigenem und Fremden wird jedoch die gemeinsame Arbeit an einem Text, der im Mittelpunkt steht und von beiden Seiten – sprachlich, klanglich, inhaltlich und überhaupt – neu entdeckt wird. Besonders auch, wie jedes Paar Gemeinsamkeiten im poetischen Sprechen aneinander aufgreift und potenziert: Sei es eine spielerisch gesellschaftlich-kritische Haltung wie bei Tom Bresemann und Jan Škrob, die gemeinsam im DDR-Museum gearbeitet haben, sei es der Klang, der bei Nadja Küchenmeister und Pavel Kolmačka da ist, aufgenommen wird und nicht verloren geht oder den absolut beeindruckenden Arbeiten von Léonce W. Lupette und Pavel Novotný, die es zustande bringen, so etwas wie tschechische Lautpoesie in so etwas wie deutsche Lautpoesie zu verwandeln und umgekehrt und diese dann auch noch als solche vorzutragen. Und da haben sie recht, wenn sie fordern: lyrikline.org sollte doch von jetzt an auch die Übersetzungen der Gedichte einsprechen lassen.

Zum glorreichen Abschied an diesem Mittwoch kann man sich jetzt noch auf Feldbetten aus einem Flüchtlingsheim niederlassen: Christian Schloyer hat zusammen mit Swantje Lichtenstein, Kinga Tóth und Michael Ammann die Regie für diesen Dichterabend übernommen. Die vier Klangpoet*innen sitzen in der Mitte des Foyers, wir liegen drumrum und hören der Klangimprovisation „Hyperschallkunstflugzeugen“ zu, die eine genaue Choreografie hat. Je eine*r der vier erzeugt Sound, ein*r lauscht und eine*r schreibt, eine*r liest das soeben Geschriebene Klangprotokoll vor/darüber/darunter und eine*r darf akustisch eingreifen. Es ist gut, zu liegen und eine Schlafmaske zu tragen, da kann man ganz im Sound taumeln und nicht umfallen und man kann auch ein wenig wegdämmern und dann wieder aufschrecken beim nächsten lauten Intervenieren dieses Klangs, der erst einmal nur wenig Anknüpfungspunkte an konkrete Bilder liefert, weil er so ganz elektronisch erzeugt und fremd in den Ohren klingt. Als bewege man sich in einem neuen Universum, in dem Klang und Text aus einem völlig unbekannten Kanal kommen und ganz neu begangen werden müssen.

Ausufernd ist dieser Abend und wie ich auf meinem Feldbett unter meiner Schlafmaske langsam gen Donnerstag gleite, bewegt sich auch das Festivalprogramm seinem Ende zu.

Schön war's. Schön. Schön.
Und schad, dass jetzt das Ende kommt – und gut.
Fade out. Slowly. Fade out.

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