POESIEFESTIVAL BERLIN. EINS. ERÖFFNUNG.
Man solle Lyrik vor allem im Dämmerzustand konsumieren, leicht berauscht vom Alkohol oder dem Schlaf, früh am Morgen oder spät am Abend, habe ich einmal bei einer Lyriklesung gehört. Und was sonst ist ein Festival, wenn nicht berauschend, wenn nicht von früh bis spät, und man selbst durch die Räume schwappend, eingelullt von allen schönen Menschen, die hier tanzen und von zu wenig Schlaf. Und das hier ist erst der Anfang.
Das 19. Poesiefestivals Berlin begann schon am Donnerstagabend mit der Eröffnung der Lyrikgalerien: In ganz Berlin verteilt werden neue und alte Schreibmaschinentexte gezeigt und das auch noch bis zum 23. Juni. Und weil man bei einem Festival bei aller verschwenderischer Freude auch immer zeitökonomisch denken muss, fangen wir also nicht damit an, sondern beim Freitag. (Überhaupt muss ich sehr zeitökonomisch sein. Alles was ich heute und in den kommenden Tagen hier vom Festival berichten werde, wird höchst ausschnittreich und fragmentarisch bleiben müssen, gewissermaßen ist es ein Bericht übers Verpassen.)
Der Freitag fängt früh an. Um neun schon trudeln die ersten Deutschlehrer*innen ins Haus für Poesie. Draußen im Hof der Kulturbrauerei stehen riesige Fahrradfelder eines Verleihunternehmens und durch die Fenster kann man den Schüler*innen beim gegenseitigen Eincremen zusehen. Und hier gibt es Lyrik. Den ganzen Tag über findet eine Fortbildung für Literaturvermittler*innen statt, angeleitet von Claudia Maß, die zahlreiche Projekte für Lyrikvermittlung außerhalb des regulären Schulbetriebs realisiert, und Christoph Ulleweit, der den pädagogischen Einsatz den Smartphones im Namen des Poesiefilms fördert. Im Mittelpunkt des Workshops stehen die Gedichte von Nico Bleutge, der in einer einführenden Gesprächslesung seine bisher erschienen Bänden vorstellt und über seine Arbeit spricht.
Gegen Mittag geht es dann los: In zwei Gruppen werden Ansätze zum kreativen und produktiven Zugang zum Gedicht erarbeitet und ausprobiert. Während die eine Gruppe konkrete spielerische Schreibübungen erkundet, gehen wir mit dem Smartphone auf Dreh, mit der Aufgabe, ein Gedicht von Nico Bleutge filmisch umzusetzen. Ein paar Vorgaben gibt es dazu, die wichtigste: Nicht konkret Abbilden, was gleichzeitig im Gedicht gesagt wird. Und eigentlich ist das viel mehr als der Versuch, ein Gedicht zu verfilmen, es ist eine Einübung in ein poetisches Sehen: Alle Gegenstände, Details und Großflächen bekommen über ihren alltäglichen pragmatischen Kontext hinaus eine zweite ästhetische Ebene. Alles wird auf einmal schön und wichtig und sehr klar (nicht verklärt); es ist keine Romantisierung, sondern eine Erweiterung des Sichtfelds hin zur Genauigkeit.
Mit der kostenlosen App FilmoraGo können die aufgenommenen Clips ganz einfach geschnitten und zu einem Film zusammengestellt werden. Die sehr einfache Handhabung eignet sich wirklich und macht es uns im Workshop möglich, auch trotz der eindeutig zu kurz bemessenen Zeit, am Ende ein passables Ergebnis in den Händen zu halten.
Skip.
Akademie der Künste. Am Abend.
Ich vermisse den roten Teppich, aber sonst ist alles da. Kostenloser Begrüßungswein und Brezeln. Dichter*innen aus aller Welt mit Namensschildchen. Man sieht schicke Menschen mit Bücherstapeln unterm Arm, die auf Autogrammjagd sind, überhaupt sind hier alle sehr schick. Das hier ist eine sehr feierliche Angelegenheit. Das hier ist nicht innovativ und hip wie Prosanova (Prosanova ist großartig!). Das hier ist groß und international und offen für alle Generationen und genau deshalb jung, immer noch. Keine Gläser und Flaschen im Saal, dafür gibt’s Kulis mit Lämpchen zum Mitlesen der übersetzten Texte dieser ersten großen Eröffnungslesung WELTKLANG. Neun Dichter*innen aus der ganzen Welt lesen heute Abend in ihrer Originalsprache auf einer großen Bühne für ein großes Publikum. Durch den Abend führt die großartige Insa Wilke. Thomas Wohlfahrt weist in seiner Begrüßung auf das Profil und die gesellschaftlich-politische Relevanz des Festivals hin, das vor allem im Namen der Konkreten und Visuellen Poesie steht– und damit den literarischen Stimmen Gehör verschafft, die Sprache in ihrer Materialität begreifen, sprachliche Oberflächen im alltäglichen Sprachgebrauch sichtbar machen und ad absurdum führen. Dies zeigt an diesem Abend in besonderem Maße Jorge Kanese aus Paraguay, der die angebliche Klarheit einer pragmatischen und nationalistisch-verbrauchten Gebrauchssprache aus den Angeln hebt und dabei hoch politisch wird. Großartig kann dieses Prinzip in den Übersetzungen von Léonce W. Lupette nachverfolgt werden, der das Deutsche nicht nur versehrt, sondern zusätzlich einen türkischen Einschlag verleiht und damit auch eine kulturelle Übertragung erreicht.
„Es geht nicht darum, schlecht zu schreiben. Diss can yedır. Ex geht nicht drum hässlich tsu schraym. Uch diss kann hemen hemen jedem. Üx gäht nüsch dromm şö:n tsu şraym. Dax kamm awa wöklich yäder Dummspakkın. Ex jeht drum nicht-tsu-şraybı-bım (algso wıin ich nich).“
Charles Bernstein hat einen vergleichbaren, aber doch ganz anderen Ansatz, mit den nationalen Strömen in den USA umzugehen. Er schreibt eine „Ballade, bloßgelegt durch ihre Mittel“, die zugleich ihre eigene lyrische Form wie auch den verrückten Mann mit den blonden Haaren, der dort drüben sein Orchester zur Volksmusik dirigiert, ins Lächerliche zieht, aber mit Geschmack:
„Das ist kein Gedicht über Politik.
Über die hab ich gar nicht viel Wissen.
Es ist kein Gedicht über eine Form
Die stottert und leiert, heillos und verschlissen.“
Die negative Formel: nicht schreiben, kein Gedicht über zu schreiben, verschlissen zu sein, weil die Sprache verschleißt, steht bei Kanese und Bernstein auf dem Programm. Man wünscht sich, dass im Publikum ein paar von denen sitzen, die grade zum ersten Mal im Bundestag mitreden dürfen oder in Bayern neue Gesetze abstimmen. Es wäre noch ein wenig Platz auf den Rängen. Ich frage mich, ob das Haus für Poesie Einladungen an diese Menschen verschickt hat, wo doch das Festival ganz im Namen der sprachlichen Entlarvung steht. Und damit ist es ja nicht allein: Vom 14. bis 17. Juni findet ebenfalls in Berlin die Konferenz „Ägnst is now a Weltanschauung“ statt, die sich noch konkreter mit diesen Fragen beschäftigt. Die Initiative bei den Literaturaktivist*innen ist da und das ist toll. Ich frage mich nur, wie weit der Dialog bei diesen Formaten nach außen geht und ob es nicht viel mehr ein in sich geschlossenes Reproduzieren und Abgrenzen bleibt.
Weil der polnische Gast Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki erkrankt ist, steht heute Abend kurzerhand Claudia Rankine auf der Bühne, die aus ihrem Erfolgswerk „Citizen“ liest. Ein Buch, in dem in eklektischer und zarter Weise auf knallharte strukturelle Rassismus-Erfahrungen reagiert wird. Das hier ist kein spielerisches, sprachverdrehtes Verhandeln, keine Ansprache der großen Witzfiguren des derzeitigen Politikgeschehens. Hier spricht die Dringlichkeit zu dieser Form und zu diesem Sprechen aus der eigenen Versehrtheit und Traumatisierung, die doch (und gerade deshalb) eine ganze Gesellschaft betrifft.
Kerstin Preiwuß wird von Insa Wilke mit einem Kommentar über die Forderung nach politischer Lyrik eingeführt. Und was bei dieser Forderung manchmal übersehen würde: Das Eigentliche. Die Tatsache, dass wir sterben müssen. Und mit welcher möglichen Haltung darauf reagiert werden könne: mit Trost. Zum Beispiel. Und so fängt Kerstin Preiwuß dann an, mit dem Gedicht „Tödin“:
„Das ist, worüber niemand spricht, nur weiß
wie's Gräben schlägt in sich um alles und das heißt beschütze mich
und vielleicht springt etwas über wo die Atmung sitzt
nur raus damit du weißt doch auch alleine denken reicht noch nicht
ganz wie die Adern das erstaunt in sich verkehren und jetzt ihren
Rückstrom spüren
und wie es trismegistisch kreist und murmelt dabei immer nur am
Leben sein
ergibt doch keinen Sinn nicht mal 'ne Fließgeschwindigkeit.“
Eine Fließgeschwindigkeit hat dieses Langgedicht mit seinen klanglich-rhythmischen Zügen. Es hat etwas Ernstes und Sanftes und Dringliches. Und da ist vom Schilf die Rede und vom Tod. Und das hat Wichtigkeit.
Im Hintergrund leuchtet eine riesige Leinwand ruhig und grell und groß: rot und pink und grün und gelb. Überhaupt muss ich noch von Erscheinung schreiben. Die große Bühne, auf der diese Gedichte und die Dichter*innen so eine Präsenz bekommen in diesem Saal, der weit über die übliche Lesungssituation hinausgeht. Von Erscheinung müsste man vor allem bei Katalin Ladik sprechen, die ihre ungarischen Gedichte ohne Skript vorträgt und ohne Pult am Mirko steht, und die gurrt und singt und eine Vogelerscheinung ist, die unweigerlich an diese präparierten Tauben erinnern, die dieses Jahr auf allen Festivalplakaten und -programmen prangen. Man müsste auch über Robert Forster schreiben, eingeflogen aus Australien, der mit seinen Songs dem eingangs über den Nobelpreisträger Bob Dylan wetternden Charles Bernstein trotzt und das ganz smart, mit Gitarre und ohne Aufregung. Und sicherlich müsste man etwas zumindest sagen über Ketty Nivyabandi, die auf Englisch und französisch dichtet und in den tollen Übersetzungen von Odile Kennel nachzulesen ist (überhaupt müsste man die Übersetzungen zumindest erwähnen, von denen viele eigens für diesen Anlass entstanden sind). Und man müsste sich auch über Yoko Tawada freuen, die ganz zum Schluss noch lesen darf, da ist es fast elf, man müsste sich ein wenig wundern über die Soundeinspielungen von Joachim Heintz, weil sie zumindest auf den ersten Eindruck keine Notwendigkeit von Seiten der Texte zu erkennen geben, außer vielleicht jenen, dass das hier der Auftakt zum Poesiefestival war, das im Namen der Avantgarde abgehalten wird.
Und weil ich von all dem nicht in dem erforderlichen Ausmaß schreiben kann. Gibt es hier noch ein Gedicht von Søren Ulrik Thomsen, der fürs Festival aus Dänemark angereist ist, hier in der Übersetzung von Klaus-Jürgen Liedtke:
„Zwischen all diesen Gedichten
über Tod und Erinnerung
ist hier ein Platz für elf Zeilen
über den Löwenzahn
dessen Leuchten ich auch dieses Jahr vergessen hatte
plötzlich wie ein Vergnügungspark entzündet
und darüber wie jeder in seinen Schlaf fällt
im selben Bett
und aufwacht wenn die Nacht am tiefsten ist
und die Stille am größten
mit einer Hand so leicht auf seiner Schulter.“
Das war's fürs erste.
Ich komme wieder.
Over.
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