Sie forderten die Hälfte der Welt
Der Kampf um die politische Partizipation von Frauen in Europa und den Vereinigten Staaten liegt nur scheinbar lange zurück. Dass Frauen heute wählen und sich selbst zur Wahl stellen können (und bei Wahlen auch noch erfolgreich abschneiden) ist glücklicherweise eine Selbstverständlichkeit. In Zeiten von Angela Merkel, Theresa May, Hillary Clinton ist das aktive und passive Wahlrecht von Frauen so selbstverständlich, dass man den langen und harten Kampf um dieses Recht kaum noch erinnert. Die Kulturwissenschaftlerin Antonia Meiners arbeitet das jahrzehntelange Ringen um das Frauenwahlrecht in ihrem Buch "Die Suffragetten. Sie wollten wählen - und wurden ausgelacht" vor allen an den Beispielen Deutschland, Großbritannien und den USA auf.
Elisabeth Sandmann Verlag
Meiners zeigt, dass der Kampf um die politische Gleichberechtigung in Europa und den USA länger dauerte, als man gemeinhin annimmt: So erhielten die Finninnen als Vorreiterinnen das Wahlrecht erst vor gut einhundert Jahren (1906) und viele europäische Länder wie Belgien und Griechenland ließen sich Zeit bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Schweiz führte das Wahlrecht erst 1971 ein. Europäisches Schlusslicht bildet Liechtenstein (1984).
Mit Die Suffragetten legt Antonia Meiners eine allgemeinverständliche und dankenswerte Übersichtsdarstellung zu einem Thema vor, dem sich bisher im deutschsprachigen Raum nur wenige Autorinnen und Autoren gewidmet haben.
Schon in der allgemeinen Einführung wird deutlich, dass es den Suffragetten (von suffrage, Wahlrecht) zwar in erster Linie um ihr Wahlrecht gegangen ist, jedoch keineswegs nur darum. Die mutigen Frauen setzten sich auch für das Recht auf Erwerbstätigkeit - als eigentliche Basis eines unabhängigen und selbstbestimmten Lebens - und für Mädchenbildung als Grundlage von Erwerbstätigkeit ein. Die rechtliche Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft wurde über das Wahlrecht hinaus auch für die Ehe (Scheidungs- und Güterrecht) eingefordert. Mit differenzierten Blick zeigt Meiners auf, dass nicht alle Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht auch hinsichtlich aller übrigen Forderungen einer Meinung waren. Unterschiede zwischen den eher konservativ-bürgerlichen Frauenrechtlerinnen und den radikaleren Aktivistinnen gab es vor allem beim Kampf gegen die bürgerliche Doppelmoral. Die Prostitution war mit der Verelendung des Proletariats bei gleichzeitiger Explosion der Großstädte sprunghaft angestiegen. Die Prostituierten wurden von der Sittenpolizei verfolgt, ihre (bürgerliche) Kundschaft jedoch nicht. Eine Ungerechtigkeit, die von vielen Aktivistinnen angeprangert wurde.
Lesenswert in Meiners Buch sind vor allem die Kurzbiografien von mehr als 20 Frauen. Neben schillernden Berühmtheiten wie Olympe de Gouges als Frau der ersten Stunde und Sozialistinnen wie Clara Zetkin und Rosa Luxemburg lernt man auch den radikalen Flügel der Bewegung kennen. Hier zählen vor allem Protagonistinnen wie Hedwig Dohm, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann aus Deutschland sowie die Pankhursts aus England zu den bekannteren Persönlichkeiten.
Gerade was Emmeline Pankhurst und ihre Tochter Christabel, aber auch Emily Wilding Davison anbelangt, sind Mut und Unerschrockenheit dieser Frauen geradezu legendär. Sicher auch aus diesem Grund widmet sich Sarah Gavron in ihrem aktuellen Film "Suffragette – Taten statt Worte" aus dem Jahr 2015 diesen Frauen als spektakulären Vorkämpferinnen (mit Meryl Streep als Emmeline Pankhurst). Emmeline Pankhurst und ihre Tochter saßen nach Steinwürfen mehrfach im Gefängnis und versuchten dort mittels Hungerstreiks, ihre Rechte durchzusetzen. Emily Davison opferte auf dem Rennplatz ihr Leben, um dort die englische Upperclass auf ihre Sache aufmerksam zu machen. Hungerstreiks, Zwangsernährung, Explosionen und spektakuläre Aktionen - dabei geht es nicht um Terroristinnen der RAF, sondern um Damen der bürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende (wohlgemerkt der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert).
Antonia Meiners hat Die Suffragetten sehr gelungen mit einer Fülle von historischen Fotografien illustriert. Die Entschlossenheit und das moderne, avantgardistische Gedankengut der beschriebenen Frauen steht oft in skurrilem Kontrast zu der adrett-bürgerlichen Kleidung, in der die behandelten „Suffragetten“ sich würdevoll ablichten ließen. Die Fotografie einer Sitzung während des Internationalen Frauenkongresses in Berlin im Jahr 1914 zeigt einen bürgerlichen Salon, überbordend gefüllt mit gründerzeitlichem Mobiliar, Teppichen und Dekorationsgegenständen. Vor Likörkaraffen und Handtäschchen sitzen die Avantgardistinnen der Bewegung mit üppigen Hüten und gerüschten Krägen.
Ein weiteres der zahlreichen Fotos zeigt Emmeline und Christabel Pankhurst im Jahr 1908 (die Mutter 50-jährig, die Tochter 28 Jahre alt). Sie tragen gestärkte Häubchen, blütenweiße Schürzen über langen schwarzen Kleidern, alles mit einem gemeinsamen Muster bestickt. Mutter und Tochter im Partnerlook? Die bestürzende Bildunterschrift erklärt es: Die adrette Garderobe ist die Häftlingskleidung des Frauengefängnisses Holloway in London.
Mit Ihrem Buch gelingt es Antonia Meiners, Frauenbiografien ans Licht zu fördern, die viel zu lange unter einem Mantel des Schweigens verdeckt lagen. Herausgegriffen sei nur die erste Präsidentschaftskandidatin der USA. Sie kandidierte bereits im Jahr 1872. Ihr Name: Victoria Woodhull. Vorher hatte diese Ikone der Wahlrechtsbewegung als Journalistin, Spiritistin und Brokerin gearbeitet.
Neben den hervorragenden und grafisch ansprechenden Illustrationen werden die Kurzbiografien durch Schlüsseltexte der Frauenwahlrechtsbewegung ergänzt, so dass die ausgefeilten und schlüssigen Argumentationsgänge der Verfasserinnen gut nachvollzogen werden können. Es wundert bei der Lektüre dieser größtenteils über einhundert Jahre alten Texte nicht, dass diese Frauen schließlich ihr (und unser) gutes Recht durchsetzen konnten. Es wundert vielmehr, dass dieser Kampf so lange dauern musste. Waren die Argumente doch so klar.
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