Ne me touchez pas
Françoise Gilot ist 93 Jahre alt, und voller Lebenslust und Neugier. Dabei, so sagt sie, hänge ihr das Leben zum Hals heraus, nicht aber die Malerei. Jeden Tag steht sie ab dem Morgengrauen in ihrem Atelier, in Paris oder New York, und malt. Jeder, der Künstler, Schriftsteller ist, weiß, wie wichtig diese Arbeitsroutine ist, aufstehen, anfangen, ganz egal, wie man sich fühlt. Man muss malen, man muss schreiben, jeden Tag.
Malte Herwig, Reporter beim Magazin der „Süddeutschen Zeitung“, hat sie das erste Mal vor drei Jahren in ihrem Pariser Atelier besucht. Er war sofort fasziniert. Und beschloss, dass er sie wiedersehen und über sie schreiben müsse. Er reiste nach Paris und New York, und sie hat ihm ihre Bilder gezeigt, ihm die Geheimnisse des Malens verraten, ihm Lektionen erteilt. Und ihm aus ihrem Leben erzählt. Natürlich auch von ihrem Leben mit Picasso.
1943, da war sie 21 Jahre alt, hatte sie in Paris ihre erste Ausstellung organisiert, trotz Krieg und deutscher Besatzung. Sie verlief erfolgreich, vielleicht zu sehr, denn im Rahmen der Erstpräsentation ihrer Werke lernte sie Picasso kennen. Sie gefiel ihm sofort und gab bald darauf ihretwegen seine Beziehung zu Dora Maar auf. Gilot sollte fortan Muse, Modell, Hausfrau, Beschützerin, Bewunderin, Mutter sein. Aber nicht länger autonom, und schon gar nicht Künstlerin. Er war der Künstler, sie hatte in seinem Schatten zu leben. Er war 40 Jahre älter als sie, sie gebar ihm zwei Kinder, dann weigerte sie sich, wieder schwanger, wieder Mutter zu werden, und nach zehn Jahren verließ sie ihn. Er tobte.
Noch nie hatte eine Frau gewagt, ihn zu verlassen. Immer war er es gewesen, der eine Beziehung beendet hatte. Auf die Tänzerin Olga Chochlowa war Marie-Thérèse Walter gefolgt, die er für die Fotografin Dora Maar verließ, dann kam Françoise Gilot. Fast alle der Frauen trugen schwere Schäden aus Zusammenleben und Trennung davon. Marie-Thérèse Walter erhängte sich, Olga Chochlowa und Dora Maar erkrankten an Depressionen, die letzte Frau Picassos, Jacqueline Roque, nahm sich 13 Jahre nach Picassos Tod mit einem Revolver das Leben.
Nur Françoise Gilot scheint die Kraft gehabt zu haben, die leidenschaftliche, mehr als schwierige, prägende Beziehung zu bändigen und für ihr weiteres Leben fruchtbar zu machen. Sie nahm die Kinder Claude und Paloma, kehrte nach Paris zurück und begann wieder zu malen. Es half ihr, dass sie immer finanziell unabhängig geblieben war. Ihre Eltern waren vermögend und unterstützten sie, obwohl der Vater sowohl gegen die Malerei als Beruf als auch die Beziehung mit Picasso gewesen war. Nicht mal geheiratet hatten sie!
Gilot hatte eine strenge Kindheit gehabt, die sie abgehärtet hatte fürs Leben. Der Vater hatte sich einen Sohn gewünscht. Als er eine Tochter bekam, ignorierte er diese Tatsache und entschloss sich, sie wie einen Jungen zu erziehen. Ihr wurde also etwas abverlangt, eine Mimikry von frühester Kindheit an, eingesperrt im falschen Körper erfuhr sie wenig Zärtlichkeit, ein beständiger Kampf um die Anerkennung des Vaters, Unterwerfung unter seine Erwartungen und Leugnung eigener Wünsche wurden verinnerlicht. Sie fand einen Ausweg. Sie begann zu malen und erlebte, als sie sich im Spiegel betrachtete und sich zu zeichnen begann, ihre erste Offenbarung. „Ich wusste, meine Zeichnung markierte mein erstes Bündnis mit der Wahrheit.“
Dabei ist sie geblieben. Der Vater wollte, dass sie Jura studierte. Sie tat ihm den Gefallen, ging aber heimlich jede Woche zu dem ungarischen Maler Endre Rozsda und lernte bei ihm. Das Versteckspiel beendete sie erst, als sie von den Deutschen verhaftet wurde, und, da sie wusste, diese hassten französische Jurastudenten, gab sie sich als Modegestalterin aus – und seitdem malte sie jeden Tag.
Sie sei ein Mensch des Nordens, sagt sie, ihre Vorfahren kämen aus der Normandie, sie stamme von Wikingern ab. Ihre grazile Gestalt spricht zwar dagegen – aber den kämpferischen, unabhängigen Geist, den hat sie geerbt. Und zugleich umweht sie der Hauch eines Fürstenhofs der Renaissance. Sie hält nichts von Szenen und Gefühlsoffenbarungen – stets bewahrt sie Haltung. Ihre Gefühle und Gedanken drücke sie in ihren Bildern aus, sagt sie, versteckt, transferiert. Das Ego interessiere sie nicht, sondern das Selbst, das sich zur Welt hin öffnet.
„. . . ich bin in meiner Malerei viel eher eine Mathematikerin oder Philosophin (. . .) Die Menschen in Frankreichs Norden haben dieses besondere Interesse daran, Mathematik und Metaphysik zu verbinden“, sagt sie.
Françoise Gilot führte und führt ein Leben, das um Freiheit und Selbstbestimmung ringt. Es ist exemplarisch für eine Generation von Frauen, die von der Öffnung aus dem bürgerlichen Käfig nach Ende des Ersten Weltkriegs profitiert hat, aber um Wahrnehmung, Selbstständigkeit, Anerkennung, Glück hartnäckig kämpfen musste. Vielen war das zu anstrengend, der Preis zu hoch. Die Unabhängigkeit musste bezahlt werden mit Verzicht auf Leidenschaft, Liebe, Familie. Was für einen Mann selbstverständlich ist, dass er beides haben kann, Arbeit, Liebe und Familie, dass er in seinem Wirken in der Welt unterstützt wird und sich dafür nicht zu rechtfertigen braucht, wurde einer Frau nicht zugestanden. Das Höchste für sie ist, jemanden zu finden, der sie in ihrer Arbeit nicht behindert oder einschränkt; dass er sie und ihr Tun darüber hinaus mit Wärme, Fürsorge, Anerkennung, Achtung, Bewunderung fördert und ihr bei Zweifeln und Schaffenskrisen beisteht, wie Männer es umgekehrt ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen, kommt nicht vor. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert: Eine Frau, die ihre Unabhängigkeit bewahrt, ihr eigenes Leben hat und ihre Freiräume verteidigt, bezahlt dies mit Einsamkeit.
Gilot hat das ausgehalten, vielleicht weil sie von frühester Kindheit an lernen musste, dass sie sich nicht schwach zeigen darf. Dass sie ihre Verletzlichkeit verstecken muss. Ihrer besten Freundin Geneviève hat Gilot bis heute nicht verziehen, dass sie die Malerei zugunsten eines bürgerlichen Lebens mit Mann und Kindern aufgab. Den Frauen generell wirft sie vor, dass sie ihre Freundschaften, kaum tauche ein Mann auf, verraten. Sie wünscht sich starke, treue, sich gegenseitig fördernde Beziehungen zu und unter Frauen, intellektuellen Austausch, gemeinsame Arbeit. Aber so lange sie mit Picasso zusammen war, kleine Kinder hatte, gelang auch ihr ein solches Leben nicht. Da hatte sie all ihre Begabung, ihre Kraft in den Dienst des männlichen Genies zu stellen und wurde von ihm an die Wand gedrückt. Dieses Genie hatte so viel Angst vor dieser Frau, dass es, als sie sich von ihm getrennt hatte und wieder mit Malen begann, allen Pariser Galeristen verbot, ihre Werke auszustellen.
Nach Picasso lebte sie 25 Jahre mit dem Immunbiologen Jonas Salk zusammen. Die beiden lernten sich kennen, als sie 47 war. Es war mehr eine Freundschaft als eine Liebesbeziehung, gegründet auf Vertrauen, Harmonie und gegenseitige Freiheit. Aber auch hier war es der Mann, der die Inhalte des Zusammenseins bestimmt. Von seiner Arbeit – Jonas Salk ist der Entwickler des Polio-Impfstoffs – wurde gesprochen, nicht über Probleme der Malerei, nicht über Kunst. Ganz selbstverständlich war es für Salk, dass Gilot die Sprache der Wissenschaft lernte und ihm zuhörte. Sie dagegen blieb mit ihrer Kunst allein. Sie sagt, sie wollte es nicht anders. Aber vielleicht war auch das wieder nur das Sich-Schicken ins Gegebene, das sie so meisterhaft beherrscht.
Ihr Werk ist kaum bekannt, es gibt Sammler, in den USA, in England, Skandinavien und Deutschland, einige Museen haben Zeichnungen gekauft, aber das Meiste ist in Privatbesitz, also für die Allgemeinheit unsichtbar. So findet eine nur versteckte Rezeption statt, gehört Gilot nicht zum Kanon der Malerei des 20. Jahrhunderts. Ihr Buch über die Zeit mit Picasso, das 1964 erschien, obwohl Picasso die Veröffentlichung über drei Gerichtsinstanzen hinweg zu verhindern suchte, wurde ein Bestseller. Ihr Buch über ihre Sicht aufs Malen und die Malerei, „Le regard et son masque“, 1975 in Paris erschienen, wurde von den Kunstwissenschaftlern kaum zur Kenntnis genommen, obgleich acht Jahre später auch ins Englische übersetzt und an der California State University publiziert. In Malte Herwigs Biographie finden sich daraus lange Zitate, die den Wunsch wecken, ein Verlag möge eine deutsche Übersetzung herausbringen. Wie auch die wenigen Abbildungen und Beschreibungen von Gemälden Gilots hoffentlich den Anstoß geben zu einer großen Ausstellung, die die Malerin umfassend in Deutschland vorstellt und ihr Werk, das 1600 Gemälde und mehr als 5000 Zeichnungen umfasst, bekannter macht.
Malte Herwigs Biographie wurde viel besprochen, steht auf der „Spiegel“-Bestseller-Liste, zahlreiche Interviews mit Gilot sind erschienen. Ob das zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Gilots Werk führt, ist aber fraglich. Es ist wohl immer noch eher die aufregende Lebensgeschichte, die Pikanterie, dass da eine Frau gegen das Genie Picasso aufbegehrt hat und ihre eigenen Wege gegangen ist, was die Leute interessiert. Und sicher auch die vielen Mut machenden Lebensweisheiten, mit denen Gilot dem häufig verzagten Malte Herwig aufhilft. Sie klingen allerdings oft so, als würde sich ein Kind, allein gelassen im Dunkeln, etwas vorsingen, um nicht so viel Angst zu haben.
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