Wo ist die Zukunft?
Auch das 32. „Jahrbuch der Lyrik“ erschien, wie sein Vorgänger, bei Schöffling & Co., herausgegeben von Christoph Buchwald, der sich in jedem Jahr einen Mitherausgeber oder eine Mitherausgeberin sucht, mit der oder dem zusammen er die Einsendungen – pro Bewerber*in sind zehn Gedichte erlaubt – liest, sie in die Stapel „nein“, „vielleicht“, „ja“ vorsortiert und die endgültige Auswahl diskutiert, in Kapitel gruppiert und in eine Reihenfolge bringt. In diesem Jahr stand ihm der Lyriker Nico Bleutge zur Sichtung der gut 6000 eingesandten Texte zur Seite, wie seine Vorgänger*innen ein guter Kenner der Gegenwartslyrik und nicht verdächtig, allein seinem Geschmack zu folgen, sondern auch Stimmen zuzulassen, die von der eigenen (stark) abweichen.
Trotz der günstigen Vorzeichen ist das gerade erschienene Ergebnis durchwachsen. Das „Jahrbuch der Lyrik“ ist eben keine Anthologie, für die man das Beste eines Jahrzehnts, einer Generation, eines Jahrhunderts oder alles je in einer Sprache Geschriebenen zu einem Thema zusammenträgt, unter Berücksichtigung von inhaltlicher wie formaler Bandbreite, Kontrast, Abwechslung, Komposition. Die Herausgeber haben nicht freie Auswahl, sondern sind abhängig vom Eingesandten. Alle Themen, alle formalen Zugänge sind erlaubt – und so besteht die Gefahr der Beliebigkeit. Wie bündele ich das Inkommensurable?
Natürlich sind auch in diesem Jahr die großen vertrauten Namen dabei, Erb, Mayröcker, Seiler, Wagner, Müller, Rinck, Utler, Popp. Aber es sind nicht immer ihre stärksten Gedichte, oder sie sind hier nur so ausgestreut, eingestreut, ohne ihre ganze Kraft entfalten zu können, wie es ihnen in einem eigenen Band möglich wäre, wo sie von stimmengleichen Texten flankiert wären. Und dann sind da die Jüngeren und die ganz Jungen, die weniger oder noch gar nicht Bekannten – das ist ja eine der Besonderheiten des Jahrbuchs, dass es sich gar nicht elitär gibt, sondern auch Newcomer zulässt. Vieles liest sich gut, aber es packt einen nicht. Viel Braves findet sich, vieles, was die Auseinandersetzung von Sprache mit Wirklichkeit scheut, selbst von der Wirklichkeit der Sprache.
Und die Entscheidung, auch in diesem Jahr wieder Übersetzungen aus anderen Sprachen mitaufzunehmen – eine Neuerung, die, seit das Jahrbuch bei Schöffling erscheint, besteht –, erschließt sich nun gar nicht. Wenn man einen Eindruck von der dichterischen Übersetzungskraft und -lust eines Jahres geben will, sollte man dies in einem eigenen Jahrbuch tun.
Klar, die Herausgeber können nur mit dem arbeiten, was ihnen vorliegt, und sie haben sich ein wenig geholfen, indem sie Verszitate ausgewählt und als zum Lesen verführende Kapitelüberschriften eingebunden haben. Ein erstaunlicher Effekt, dass so ein Aus- und Anreißer mehr Verlockung ins Unbekannte entfaltet als das Gedicht, dem er entnommen wurde. Vielleicht ein Fingerzeig, dass die Gedichte einen Hang zu zu großer Geschlossenheit haben.
Natürlich gibt es wundervolle Ausnahmen. Elke Erbs „Sechs Uhr morgens“ atmet, befreit sich aus emotionaler Verwirrung hinaus ins Freie und nimmt den Leser mit und entlässt ihn wie einen Vogel, dem sich die Hand, die ihn hielt, öffnet. Oder „Ebenen“ von Steffen Popp, ein Triptychon für Volker Braun: treffsichere Verknappung ohne Pointensucht von allerhöchster sprachlicher Eleganz. Carl-Christian Elzes Venedig-Gedicht macht neugierig auf mehr. Und Sylvia Geist, von der, absolut zu Recht, drei Texte im Band sind, hält in „Die Vermissten“ und mehr noch in „Bilder für“ wunderbar die Balance zwischen Geheimnis und Verrat, dem Erzählen einer Geschichte und deren Vorenthaltung.
Im Ganzen wirkt der Band jedoch konservativ, ohne dass sich recht sagen ließe, woran genau sich dieser Konservatismus festmacht. Sind es die allzu bekannten Bilder und Themen, die fast völlige Abwesenheit von digitaler Welt und Internet, von Billigfliegern und Verkehrskollaps, von Kriegen und Flüchtlingswellen, Umweltkatastrophen und von Großstadt mit Verdrängung, steigenden Mieten, Unterschichtsjobs und der eigenen prekären Situation?
Sicher, viele Dichter*innen neigten schon immer zum Überzeitlichen und Erhabenen. Aber das Ausmaß, mit dem hier selbst in Alltagsgedichten, Texten also, die nicht den Anspruch auf Ewigkeitsdauer erheben, von intakter Natur die Rede ist, von Pflanzen und Tieren und Himmel und Erde und Wasser, erstaunt doch – und ist nur damit zu erklären, dass es früher, als die Dichter*innen Kinder waren, das alles noch gab, was jetzt längst zerstört und von Technik und bloßen Natursimulationen überwuchert ist. Diese Natur-Lyrik erweckt den Eindruck, als würde, wovon sie mit einer erinnerungsseligen Selbstverständlichkeit spricht, auch außerhalb von ihr noch existieren. Die immense Fähigkeit zur Verdrängung, die uns in den Texten begegnet, wirkt bedrückend, da wir doch täglich anders sehen, schmecken, riechen, hören, fühlen, umgehen mit anderem Vokabular und Wissen.
Das ist nun schon keine Kritik des Jahrbuchs mehr, sondern eine darüber hinausgehende, mit dem Wunsch verbunden, die Lyrik möge den unübersehbaren Abdruck des Menschen in der sogenannten Natur, die, selbst da, wo sie noch intakt zu sein scheint, eine durch und durch verwaltete, ausgebeutete, künstlich am Leben gehaltene ist, endlich wahrnehmen und ihre Sprache und Bilder weiter entwickeln, von den Stillleben mit Äpfeln und alten Gartengeräten hin zu den Werkzeugen, mit denen sie geschrieben wird, und nicht nur von den alten Mythen und Göttern erzählen, sondern auch von den gegenwärtigen und kommenden. Wo seid ihr, Poeten der Zukunft?
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Kommentare
Poeten der Zukunft
Wenn wir Erinnerungen aufrufen, die eine heilere Welt als die heutige zu zeigen scheinen, ist das nicht unbedingt Eskapismus oder Verdrängung (denn auch damals war die Welt, die Natur ja nicht heil). Sondern wir entwerfen ein Gegenbild zu dem Desaster, dem wir uns täglich gegenübersehen. Oder wie Pasolini, der doch von Poesie etwas verstand, es ausdrückt: "Ich bin eine Kraft der Vergangenheit. /Nur in der Tradition lebt meine Liebe./ Komme aus den Ruinen, aus den Kirchen,/ von den Altarbildern, den Burgen/ ... / und ich, erwachsener Fötus, treibe mich herum, / moderner als jeder Moderne, / Brüder zu suchen, die nicht mehr sind." Ist das etwa Konservativismus? Die Forderung nach Aktualität höre ich nun immer wieder seit über 50 Jahren. Sie wird auch durch Widerholung nicht gehaltvoller.
re:zension
re:zension
die verwundeten felder
die verwunschenen
ackerbau und viehzucht oder
sammeln und jagen
die verwundeten verse
die verwunschenen
die verwünschten
die verwunderten
Wo ist die Zukunft? Das 32. „Jahrbuch der Lyrik“, herausgegeben
Bettina Hartz sagt recht deutlich,was das Manko dieses Sammelsuriums von unterschiedlichsten Gedichten ist: die Souvernänität in der Auswahl der Juroren und ein handfester Kriterienkatalog.
Man kann nicht an der konfliktuellen Lage unserer Gesellschaft vorbei schauen und hehre Metaphern von gestern bemühen, um
sich glaubwürdig mit zuteilen.
Betroffenheit erzeugen kann man, wenn man die Spuren der Beliebigkeit verlässt, auch wenn dadurch die "Ewigkeit" nicht garantiert ist.
Es ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen, dass die Sprache zumindest teilweise auf die gegebene Wirklichkeit eingehen sollte.
Ob die genannten wundevollen Ausnahmen auf diese Wirklichkeit eingehen, sei dahin gestellt.
Die Zukunft hat Bettina Hartz mit ihrer Kritik leider auch nur ansatzweise skizziert.
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