Zu weit entfernt
Es ist eine Binsenwahrheit, dass sich Lyrik kaum adäquat übersetzen lässt, jedenfalls ist der Zweifel am Gelingen entsprechender Versuche zulässig und nicht unbegründet. Im Besonderen ist Skepsis im Falle chinesischer Lyrik angebracht. Dass, wie es im Vorwort des Übersetzers heißt, das Chinesische „mit einer äußerst ökonomischen Grammatik“ auskomme, ist ein Klischee, das wie alle immer und immer wieder geäußerten Scheinurteile, durch die Häufigkeit der Wiederholung nicht an Wahrheit gewinnt.
Wie in der Táng-Zeit (608-907) üblich, verwendet der Dichter Lǐ Shāngyǐn (ca. 812–858) die in seiner Zeit voll entfalteten lyrischen Grundmuster, die nicht weniger strenge Vorgaben darstellen, als altgriechische Metren oder beispielsweise die uns geläufige Form des Sonetts, die chinesischen Regeln weisen eher noch umfassendere Regeln auf. Ein erweiterter Begriff von Grammatik muss diese Vorschriften, denn darum handelt es sich doch wohl bei einer Grammatik, einbeziehen und dann kann von einer reduzierten Grammatik für die Lyrik nicht mehr die Rede sein. Um es deutlich zu zeigen, was gemeint ist, analysiere ich im Folgenden eines der von Raffael Keller übersetzten Gedichte (Raureifmond, S. 14):
Raureifmond
Zu hören die ersten Wildganszüge, doch keine Zikade mehr.
Südlich des Hundert-Ellen-Turms empfangen die Wasser den Himmel.
Die Blaue Maid und die Weiße Frau, von der Kälte unberührt,
wetteifern im Mond und im Raureif darum, welche uns schöner betört.霜月
初聞征雁已無蟬
百尺樓高水接天
青女素娥俱耐冷
月中霜裏閗嬋娟
Es handelt sich um die nach Umfang an zweiter Stelle des Formenkanons stehende Form des regelmäßigen Siebensilbers, der sieben Silben, entsprechend Wörtern, in jedem der vier Verse, also mit dem zweisilbigen Titel nicht mehr als 30 Silben/Zeichen/Wörter umfasst. Raffael Keller verwendet für die deutsche Wiedergabe 78 Wörter, das sind ungefähr dreimal so viele, wie das Original aufweist. Die Feststellung mag etwas buchhalterisch wirken, zeigt aber dennoch die Herausforderung, wenn sich der Übersetzer nicht weit von dem Original entfernen will. Es ist doch gerade im Falle einer so knappen, geradezu ein Schweben erzeugenden, lyrischen Sprache die Aufgabe, eben dieses Wesentliche zu erhalten, jedenfalls in einer bis ins Einzelne ausdeutenden Sprache den Versuch der Näherung zu wagen. Mein Rat: Paul Celan lesen, bei ihm ist die Methode der sprachlichen Reduktion im Deutschen zu lernen.
Das Chinesische ist eine monosylabe Tonsprache, die Wörter bestehen im Altchinesischen aus einer einzigen Silbe. Es gibt vier Töne, jede Silbe kann also prinzipiell in vier unterschiedlichen Tonbewegungen ausgesprochen werden und erhält dann jeweils eine andere Bedeutung, die Töne sind also semantisch bedeutsam. Nun ist es so, dass die Töne des Mittelalters zum Teil nicht mehr den heutigen gleich sind, ebenso hat sich die phonetische Realisierung, die Aussprache der Wörter, verändert. Liest man den Text in moderner Aussprache, entspricht der Klang nicht dem Original. Der geschilderte Umstand ist zwar für eine Übersetzung ohne Bedeutung, nicht aber für den Versuch, dem Original nahe zu kommen: Der Übersetzer sollte den annähernd originalen Klang, der rekonstruierbar ist, schon kennen.
Der Dichter nun konnte aus dem großen Wörtervorrat seiner Sprache nicht frei wählen, denn dem obenstehenden Text liegt eine Tonstruktur zugrunde. Die genannten (alten) vier Töne wurden in zwei Kategorien „eben“ (平 píng im Schema +) und „uneben“ (仄 zè im Schema –) eingeteilt, jedes Schriftzeichen/ Wort gehört nach seinem (alten) Ton einer der beiden Kategorien an, die Zuordnung nach dem Gehör stellte für den Dichter keine Schwierigkeit dar, aber er musste auch folgendes Schema gut kennen:
+ |
+ |
– |
– |
– |
+ |
+ |
– |
– |
+ |
+ |
– |
– |
+ |
– |
– |
+ |
+ |
+ |
– |
– |
+ |
+ |
– |
– |
– |
+ |
+ |
Aus der vorgegebenen Abfolge von Tönen entsteht die sogenannte Worttonmelodie. Sie geht bei der Übersetzung aus dem Chinesischen vollkommen verloren und stellt somit den ersten einschneidenden Verlust dar.
Das Gedicht weist dreimal den gleichen Endreim dar, und zwar in (angenähert) mittelalterlicher Aussprache:
Vers 1 蟬 etwa ziän
Vers 2天 etwa thien
Vers 3 冷etwa liɛn
Vers 4 娟 0
Der Übersetzer hat gar nicht erst versucht, einen passenden dreifachen Reim zu finden. Man kann dem folgen, denn der Reimzwang führt meist zu unsäglichen und durch nichts zu rechtfertigenden Verzerrungen des Textes. Allerdings ist der unsaubere Reim „betört“ in dem im Original reimlosen Vers 4 auf „unberührt“ in Vers 4 unschön. Der zweite große Verlust betrifft den Reim.
Text leitet sich von lat. tegere – weben ab. Ein Gewebe besteht aus Kett- und Schussfäden, also einer horizontalen und vertikalen Struktur. Chinesische Gedichte sind in diesem Sinne hochkomplexe Gewebe, denn nicht nur der vertikale Satz sondern die horizontalen Bezüge sind nicht nur semantisch bedeutsam, sondern auch vorgeschrieben! Antithetisch oder in vertikaler Parallelität werden Wörter in neun Kategorien und Sachgruppen gesetzt: Nomen, Adjektive, Zahlwörter, Farbbezeichnungen, Richtungsbezeichnungen, Verben, Adverbien, grammatische Funktionswörter und Pronomina. Ein gekonntes (freieres) Beispiel aus den Versen 4 und 5 des zitierten Textes:
Vers 4 |
素娥 |
耐冷 |
|
Mondgöttin |
erträgt die Kälte |
Vers 5 |
霜裏 |
嬋娟 |
|
im Frost |
(In) Schönheit |
(Mögliche Lesung: Mondgöttin / im Frost / erträgt die Kälte / in Schönheit / im Mondlicht.)
Um die horizontalen Bezüge zu erhalten ist es geboten, die Wortstellung des Originals so weit wie möglich zu erhalten.
Ich komme zur Semantik des Textes und gebe eine Interlinearversion, damit jede Interessierte den Veränderungs- und Verlustprozess verfolgen kann (//) steht für die vorgeschriebene Zäsur nach der vierten Silbe/Wort:
Frost / Mond /
Anfang / hören / ziehen / Wildgans // bereits /nicht haben / Zikade,
Einhundert / Fuß / Turmhaus / hoch // Wasser / anknüpfen / Himmel.
Türkis / Frau / farblos / schöne Frau // alle / aushalten / kalt,
Mond / inmitten / Frost / innen / kämpfen / Schön / -heit .(30 Silben /Zeichen/Wörter)
Mondlicht auf Reif
Erste ziehende Gänse zu hören, keine Grille mehr,
Vom Turmhaus oben: Strom verschwimmt mit Himmel.
Frostfrau und Mondgöttin trotzen beide der Kälte,
Im Mond auf Reif: wessen Schönheit wohl siegt?(53 Silben/Zeichen/Wörter)
Es ist also möglich, einen ästhetisch ansprechenden Text mit nicht einmal der Verdoppelung der Silbenzahl des Originals zu erreichen. Raffael Keller füllt auf, setzt sich über die Knappheit des Originals hinweg, verfasst einen epischen Text und entfernt sich damit zu weit vom Original.
Ein Neologismus wie „Raureifmond“ ist unangemessen, der Titel umfasst im Chinesischen nur zwei Silben und zusätzlich wird die Lichtwirkung der nächtlichen Szenerie gar nicht erkannt. „Hundert-Ellen-Turm“ entspricht noch nicht einmal einer ersten interlinearen Näherung, das chinesische Maß ist nicht die Elle sondern 尺 chǐ - der Fuß „hundert Fuß „ steht hypertroph für „hoch“. In der chinesischen Profanarchitektur gibt es keine Türme, 樓 lóu ist das einstöckige und damit schon höhere Haus. 青女 steht nach dem daoistischen Philosophen Huai’nan‘zi für die Göttin des Frostes und des Schnees, „Blaue Maid“ gemahnt eher an eine schweizerische Sennerin verflossener Jahrhunderte und die „Weiße Frau“ an den Spuk in einem neogotischen Schloss. „Betören“ ist eine freie fernliegende Zutat.
Die hier nur abgekürzt und in Grundzügen dargestellte, komplexe Struktur der chinesischen Lyrik der in Rede stehenden Táng-Zeit möge dem Interessierten zeigen, womit er sich eigentlich beschäftigt: Er bekommt im Grunde nur eine höchst subjektive Spiegelung vorgelegt, die folgende Verluste verbirgt:
1. Die Worttonmelodie (in Näherung).
2. Die Reimung.
3. Die Vertikale Konstruktion (in Näherung).
Dazu kommt im vorliegenden Beispiel (und darüber hinaus) semantische Ungenauigkeit.
Ich habe nicht den Eindruck, dass Raffael Keller versuchte, möglichst viel Züge der angedeuteten Originalstruktur zu erhalten. Er hat allerdings recht, wenn er im Vorwort schreibt, der Leser sei aufgerufen, „ein Gedicht durch die eigene teilnehmende Lektüre zu vervollständigen und zu vollenden“. Dann sollte der Übersetzer dem Leser aber auch die Möglichkeit dazu geben und nicht seinem Impetus folgen, in wenig respektvoller Art dem Original gegenüber genau das nach seinem Gusto zu tun: zu vervollständigen und zu vollenden. Nehme ich alles zusammen, kann ich mein früheres Urteil nur wiederholen: Raffael Keller benutzt die chinesischen Originale als Material seiner lyrischen Anstrengung und entfernt sich zu weit von den Vorlagen.
Die kleine (ca. 15,2 cm H x 14,3 cm B) Broschur ist sehr schön gestaltet, gedruckt wurde auf festes Chamois-Papier, der schwarze Umschlag weist ein Loch auf, hinter dem das Verlagssignet zu sehen ist, er ist schmaler als die erste Seite, auf der so horizontal der zweifarbige Titel erscheint: sehr einfallsreich das Ganze. Die beiden Radierungen (?) von Christophe Carbenay erinnern von fern an Alberto Giacometti, ich finde keinen Bezug zu den Texten, der aber auch nicht gegeben sein muss. Sie erhöhen den vornehmen Eindruck des Büchleins, das sich wohl gut zum Verschenken eignet, aber bitte an keine klassische Sinologin.
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