St. Gallener Chinoiserien im jambischen Ärmelkleid
Als bibliophiler Bodoni Druck 48 sind im kleinen, feinen, großen Schweizer Verlag waldgut „Neunzehn Gedichte aus alter Zeit“ nach einer erstaunlich langen Inkubationszeit erschienen. Um es gleich vorab zu sagen, es handelt sich um keine sinologische Arbeit. Warum nicht? Da der St. Gallener Bibliothekar und Übersetzer Raffael Keller die gut 1800 Jahre alten Texte als Material seines lyrischen Ehrgeizes missbraucht. Ich schlage die fadengeheftete, superb gestaltete, in einer schönen Antiqua gesetzte französische Broschur auf, treffe genau in der Mitte das neunte der neunzehn Gedichte und wähle diesen Text als Gegenstand der paradigmatischen, genauen Analyse und Grundlage meiner Wertung.
„Im Hof, da steht ein Baum von seltner Zier.
Sein grünes Laub gedeiht in voller Pracht.
Ich breche einen frisch erblühten Zweig
für den einen, dem mein Sehnen gilt.
Der süße Duft in meinem Ärmelkleid
dringt nie zu ihm, der Weg ist viel zu weit.
Wohl wäre diese Gabe zu gering,
doch spüre ich, seit wir getrennt, die Zeit.“
Raffael Keller wählt als handelndes Subjekt eine Frau, sein lyrisches „Ich“ ist weiblich, es ist so möglich, aber ebenso möglich wäre es, einen Mann sprechen zu lassen oder gar, und das käme dem Chinesischen am nächsten, sich nicht geschlechtlich festzulegen (die altchinesische Sprache ist in dieser Hinsicht von einnehmender Großzügigkeit). Man könnte einmal, wie im Chinesischen, von dem EGO weitgehend absehen. Doch gut, eine Dame pflückt einen duftenden Blütenzweig, man denkt gleich an die Blüte der wunderbaren Cassia 桂花, des Zimtbaums, der bis heute gern in den Höfen der Tempel kultiviert wird, da sein Duft ebenso fein und intensiv ist wie hierzulande die Blüten der Linde. Sie (oder eben er oder man) birgt den Zweig in der weiten Ärmeltasche des Gewandes, um ihn bei Gelegenheit dem Verehrten zu überreichen. Aber dazu wird es nicht kommen, den die räumliche Trennung erscheint als zu groß. So einfach und so bitter ist die Situation.
In der ersten Hälfte (vier Verse à fünf Zeichen=Wörter) wird die Besorgung des Geschenks und der Wunsch, was mit ihm geschehen sollte, ausgedrückt.
Der erste Vers:
„Im Hof , da steht ein Baum von seltner Zier.“
Interlinear:
>Hof / Mitte // haben / wunderschön / Baum<
In des Hofes Mitte ein wunderschöner Baum.
Der Netz-Duden charakterisiert Zier als „veraltend“, vielleicht höre ich deshalb einen gravitätischen, altväterlichen, aus dem 19. Jahrhundert heraufklingenden Friedrich Rückert-Ton? Ach ja, im Chinesischen taucht das Wort nicht auf, es ist eine freie Zutat. 中 Mitte kann Postposition sein, aber bei einem Gedicht mit nicht mehr als 40 Zeichen=Wörtern neige ich dazu, die volle Bedeutung zu wählen. 奇 ist nicht einfach selten, sondern >rar und kostbar, von besonderer Schönheit<. 有 haben gibt einfach nur das Vorhandensein an, die Wiedergabe mit steht ist viel zu stark und damit verzerrend.
Der zweite Vers:
„Sein grünes Laub gedeiht in voller Pracht.“
Interlinear:
>grün / Blatt // entfalten / Blüte + platzen(Binom)<
Sein Blätterwerk entfaltet üppig sich.
Ich weiß nicht, welche Wörterbücher Herr Keller benutzt, in dem 12bändigen Hanyu dacidian von 1992 jedenfalls hätte er entdecken können, dass 華滋 ein Binom (aus zwei Zeichen bestehender Begriff) ist, der einen Zweig in Saft und Kraft beschreibt, Pracht entspricht 華, aber das Binom ist auseinandergerissen, der zweite Teil 滋 hervorsprudelnd verschwindet bei Raffael Keller ganz.
Der dritte Vers:
„Ich breche einen frisch erblühten Zweig“
Interlinear:
(heran-)ziehen / Zweig // brechen / seine / Blüte
Greife einen Zweig, breche seine Blütenpracht
Freie Zutaten in St. Gallen: Ich / frisch / er-(blüht) (inchoativer Aspekt) und freie Auslassung: 攀 pān heranziehen. Die Auslassung bewirkt die Destruktion des Bildes und führt zu einer unnötigen Entfernung vom Original. In der dem Original treuen Fassung wird die erotische Konnotation deutlicher betont.
Der vierte Vers:
„für den einen, dem mein Sehnen gilt.“
Interlinear:
nehmen / um zu // schenken / (Subordination) / sehnen.
Zu schenken ihn, dem Ersehnten.
oder
Zu schenken ihn, der Ersehnten.
Gemeint ist:
Zu schenken ihn, dem ersehnten Menschen.
Die Nominalisierung dem mein Sehnen gilt ist arg umständlich und schwer dahertrabend.
Der fünfte Vers:
„Der süße Duft in meinem Ärmelkleid“
Interlinear:
>Intensiv (weit reichend) / Duft // füllen / verborgen bei sich tragen und (!) das Herz einer Person gewinnen / Ärmel<
Starker Wohlgeruch, dunkel füllt er den Ärmel
Jeder, der nur ein wenig von der großen Hàn-Dynastie weiß, kennt die geradezu manieriert weiten Ärmel der Gewänder für Frau und Mann, die man zum Beispiel an den tönernen Grabfiguren im sehenswerten Museum Rietberg in Zürich studieren kann. Ich erwähne es, da es schlicht eine kaum zu übersehende Eigenart der chinesischen Kulturgeschichte darstellt und damit eben etwas unverwechselbar Chinesisches – und gerade das eskamotiert Raffael Keller mit dem seltsamen Neologismus Ärmelkleid, der mich unwillkürlich an eine Bildung wie Kittelschürze denken lässt, hinweg, weil er (Gott sei Dank!) zwar nicht auf den Reim, aber auf eine Art Binnenalliteration setzt, an Stelle und in etwa der Zahl der originalen Reimwörter: Zweig / Ärmelkleid / weit / Zeit. In diese Reihe der Diphthonge passte Ärmel schlicht nicht hinein, deshalb greift der Nachdichter zum Mittel der Erweiterung, und genau dies hat mit sinologischer und das heißt philologischer (den Wörtern freundlich gesonnener) Haltung nichts zu tun.
Ja richtig, es ist ein Streit um ein einziges Wort, aber allein diese Vorgangsweise zeigt Grundsätzliches: Aus Gründen des scheinbaren Wohllautes sind Erweiterungen und andere Eingriffe (zu heftige Umstellungen, Ergänzungen aus Gründen des Reims oder der Alliteration, Auslassungen usw.) schlicht und einfach nicht erlaubt.1 Nicht mehr erlaubt, seit Friedrich Rückert bis Günther Debon ging man so mit altchinesischer Lyrik um: Unangemessen. Zugreifend. Weshalb unangemessen? Weil das so klare chinesische Sprachbild zerstört wird → Duftender Blütenzweig (Cassia?) im weiten Ärmel. Weshalb zugreifend? Weil der Dichter dem konventionellen „Gebot“ folgt, ein chinesisches Zeichen=Wort mit einer Hebung wiederzugeben, bei fünf Zeichen also für den zuletzt zitierten Vers: -´- ´- ´ - ´-´2. Es fehlte im Jambus also die letzte, die fünfte betonte Silbe und da bot sich das unsägliche –kleid an. In meinen Augen gehört das genannte „Gebot“ zu den althergebrachten Zwängen, deren Folge allzu oft Destruktion der Bildlichkeit ist.
Es soll auf Fixpoetry tatsächlich eine Rezension von Übersetzungen aus dem Chinesischen geben, die mit dem Satz beginnt: Über China weiß ich nichts. So etwas ist ein Grauen für einen Sinologen, immerhin handelt es sich bei „China“ um ein Drittel der Bevölkerung des Globus und um die einzige seit ihren Anfängen kontinuierlich im Strom der Zeit existierende Hochkultur. Ein akribisch genauer Blick auf Texte, die als Übersetzungen daherkommen, ist also angebracht. Deshalb ist es nötig, weiter über einige Zeichen=Wörter der Nr. 9 zu sprechen, es ist einfach eine Frage der Angemessenheit, was im Übrigen als 義 einer der primären Werte des Konfuzianismus ist.
Also der sechste Vers:
„dringt nie zu ihm, der Weg ist viel zu weit.“
Interlinear:
>Weg / weit // keiner / gelangen/ (Personalpronomen)<
Zu weit der Weg, keiner der zu ihm gelangt.
Ist der Duft das Agens? Man könnte es so verstehen, aber die Negation 莫 bezieht sich im Altchinesischen auf eine Person im Sinne von 沒有誰 es gibt niemanden…, ist also fehlerhaft als einfache temporale Negation nie aufgefasst worden. Gemeint ist, ein Bote oder der Träger des lyrischen Ichs selbst könnte den Zweig nicht überbringen.
Der vorletzte Vers:
„Wohl wäre diese Gabe zu gering,
Interlinear:
>dieser / Sache / welcher / genug / Geschenk<
Dieses Ding, was ist wohl sein Wert?
Gabe klingt hochtönend wie Zier und dem mein Sehnen gilt. Der Autor des Gedichts blickt aber selbstkritisch und ein wenig resignierend auf seinen untauglichen Versuch, ein Geschenk zu senden, wohl wissend, dass es doch ausreichte, wäre der andere zu erreichen. Er fragt sich, welchen Sinn sein einfaches, aber so schönes Geschenk habe, und kommt zu einem starken, gar nicht resignativen Schluss.
Der letzte Vers:
„doch spüre ich, seit wir getrennt, die Zeit.“
Interlinear:
aber / fühlen // trennen / durchlaufen / Zeit.
Ich fühle doch, sind noch so lang wir getrennt.
Sehr philosophisch, auch entsprechend komplex mittels einer hypotaktischen Struktur ins Wort gesetzt und darüber hinaus auch noch scheinbar so gut in die Welt der komplizierten Paarbeziehungen des 21. Jahrhunderts passend, aber ein einzelnes Zeichen 別 als einen kompletten temporalen Nebensatz seit wir getrennt wiederzugeben, ist leider schlicht und einfach falsch. Die Position des vorletzten Zeichens=Wortes 經 ist auf Grund der parallelen Position zu 足, 致 und 懷 in verbaler Form ebenfalls verbal aufzufassen, so ergibt sich ein vollkommen anderer Sinn: Das lyrische Ich empfindet nach wie vor, was es schon lange fühlte, obwohl die räumliche Trennung schon lange andauert.
Man (sie oder er) kann so vorgehen wie Raffael Keller, nur hat es mit Sinologie nichts zu tun, sondern eher mit einer Art Erschaffung eines opus mixtum, eines lyrischen Mischgebildes aus St. Gallener Sentiment aufgepfropft auf den 1800 Jahre alten chinesischen Stamm. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, Mischungen sind wunderbar und große Dichter haben so gearbeitet, etwa der kompliziert-komplexe Ezra Pound. Der Leser (sie oder er) sollte aber wissen, was er da in Händen hält: jedenfalls keine möglichst getreue, das Original respektierende Übersetzung. Und da es recht einfach zu sein scheint, Lyrik zu kritisieren, füge ich meine Lösung an.
庭中有奇樹·之九
庭中有奇樹 葉發華滋
攀條折其榮 將以遺所思
馨香盈懷袖 路遠莫致之
此物何足貴 但感別經時In des Hofes Mitte ein wunderschöner Baum,
Sein Blätterwerk entfaltet üppig sich.
Greife einen Zweig, breche seine Blütenpracht,
Zu schenken ihn dem Ersehnten.Starker Wohlgeruch, dunkel füllt er den Ärmel.
Zu weit der Weg, keiner der zu ihm gelangt.
Dieses Ding, was ist wohl sein Wert?
Ich fühle doch, sind noch so lang wir getrennt.
Fixpoetry 2017
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Kommentare
Neunzehn alte Gedichte: die Vorlage
Der Vollständigkeit halber zitiere ich die offenbar von Raffael Keller verwendete Vorlage aus dem Jahre 1958, die mir erst jetzt zugänglich wurde: Die Chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen Hsüan von Erwin von Zach, 1872-1942. Edited by Ilse Martin Fang with an introduction by James Robert Hightower, Harvard-Yenching Institute Studies XVIII, Harvard University Press 1958, Vol. I, S. 516
Erwin von Zach hat alle neunzehn Gedichte übersetzt, außerdem finden sie sich (ohne Nr 8 und 18) in Arthur Waley: 170 Chinese Poems, (Alfred A. Knopf) 1925.
Leider muss offenbar heute darauf hingewiesen werden, dass es zur Solidität des Übersetzens gehört, auf vorherige Übesetzungen im Vor- oder Nachwort zu verweisen.
Simon über die 19 Alten Gedichte von R. Keller
Ich bin von der Bissigkeit der Kritik Simons an der Keller’schen Übersetzung sehr überrascht und auch nicht sehr angetan. Schwächen oder gar Fehler sind bei Übersetzungen aus dem Altchinesischen wegen der sprachlichen, kulturellen, zeitlichen und auch geographischen Distanz nahezu unvermeidlich, wie eigentlich auch Simon mit Blick auf seine eigene Übersetzung des ‘Buches der Lieder’ (SHIJING) einräumen müßte. Daß jeder Übersetzer seine eigenen ästhetischen Maßstäbe hat (vulgo: „Was ist schönes Deutsch?“), ist eine Selbstverständlichkeit. Übersetzungen sind immer neue Annäherungen an das Original ‒ so gibt es meines Wissens allein im Deutschen etwa zehn Übersetzungen der NEUNZEHN ALTEN GEDICHTE, alle mit Stärken und mit Schwächen, und doch sind sie alle immer neue legitime Versuche und Bemühungen, uns die Literatur dieses großen Kulturvolkes näherzubringen.
Simon möge auch bedenken, daß man sich nicht nur im alten China sehr schnell dem wenig schmeichelhaften Vorwurf des wénrén xiāng qīng 文人相轻 ausgesetzt sehen kann. Es wäre spannend zu lesen, wie eine Besprechung Kellers der Simon’schen Übersetzung des SHIJING ausfallen würde.
M. Frühauf, zur Zeit Peking
Kurze Bemerkung zu dem erhobenen Zeigefinger im fernen Beijing
Nur wer nicht übersetzt, macht keine Fehler.
Es ist ebenso einfach wie problematisch zu sagen: Übersetzungen aus dem klassischen Chinesischen könnten Fehler niemals vermeiden. Jeder Übersetzer weiß schon, dass ihm, vor allem bei sehr umfangreichen Texten, veritable Fehler unterlaufen können. Es gehört zu den Risiken dieser Tätigkeit. Gerade deshalb ist philologische Kritik entscheidend. Enttäuschend ist, dass Manfred Frühauf, ein wirklich kenntnisreicher Sinologe, mit keinem Wort auf Philologisches eingeht, sondern moralisierend insinuiert, es gehe um die Herabsetzung anderer „Gelehrter“. Die einzige Autorität ist der TEXT, dem sich der Übersetzer mit bestem Wissen und Streben dienend unterordnen muss. Dazu gehört, und da wird der Pädagoge Manfred Frühauf sicher zustimmen, die möglichst gelungene Anwendung der philologischen Werkzeuge. Und wenn es tatsächlich 10 Versuche gibt, die „Neunzehn Gedichte aus alter Zeit“ zu übersetzen, dann gehört ein solches Faktum als Teil der Rezeptionsgeschichte in den philologischen Kommentar, wenn es sich um eine Arbeit mit sinologischem Anspruch handelt.
Rainald Simon
Zur Zeit Amöneburg
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