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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Feurige Werke

Fluide Poesie zwischen West, Ost und Mitte in der Chinabox
Hamburg

Über China weiß ich nichts. Habe ich wieder gemerkt. Oder zumindest über das gegenwärtige China weiß ich nicht viel. Umso schöner, dass sich mit der in der Edition Polyphon des Verlagshauses Berlin erschienenen Anthologie Chinabox. Neue Lyrik aus der Volksrepublik ein atmosphärisch dichter Blick nehmen lässt auf die Vielgestaltigkeit einer Gesellschaft, die sich nicht so einfach unter die im Westen kursierenden Etiketten bringen zu lassen scheint. Zu verdanken ist das der Herausgeberin Lea Schneider und ihren Mitübersetzern Peiyao Chang, Daniel Bayerstorfer, Marc Hermann und Rupprecht Mayer wie auch den zwölf mit einer Schaffensauswahl versammelten chinesischen Gegenwartsdichtern, die sich größtenteils hauptsächlich in den neunziger und nuller Jahren einen Namen machen konnten (und zwischen 1956 und 1980 geboren sind, also etwa aus zwei Generationen sind). So wird es der Leserin nicht nur ermöglicht, eine bisher im deutschsprachigen Raum nicht wahrnehmbare Lyrikwelt und ihre teils ungewöhnlichen Ansätze und Verfahrensweisen kennenzulernen, sondern es zeigen sich in den besten Texten auch Antworten darauf, wie das diskursiv und alltäglich Politische vielleicht poetisch zu fassen sein könnte. Und das ist in den meisten Fällen vor allem: lehrreich und sehr an- und aufregend.

Selbstverständlich können nicht alle Texte des Bandes mit diesem Zugriff gefasst werden und die Agenda dieser Anthologie ist es ja vor allem auch, die Vielgestaltigkeit poetischer Positionen in der chinesischen Dichtung der Gegenwart, deren Verflechtungen mit westlichen und eigenen Traditionen abzubilden: Hierfür habe ich mich von den sowohl konzentrierten als auch kenntnisreichen Einführungen von Lea Schneider in allen Fällen gut an die Hand genommen gefühlt. Gleiches gilt für das knappe aber informativ dichte Vorwort (inwiefern das darin angebotene Rezeptionsraster für bisherige Gedichtübersetzungen aus dem Chinesischen ins Deutsche, „Pflaumenblüte oder Dissident“, angesichts seiner Schlagwortigkeit zutrifft, kann ich leider nicht beurteilen). Die Krux der Anthologiebesprechung greift leider auch im Folgenden: allen zwölf Lyrikern kann ich ohnehin nicht gerecht werden, zu einigen habe ich einen Zugang gefunden (und bespreche sie deshalb kurz), zu einigen nicht (was dann mit Sicherheit größtenteils an meinen nicht vorhandenen Sprachkenntnissen liegt).

Besonders Sun Wenbo hat bei mir mit seinem essayistisch-gedankenlyrischen Stil sofort eingeschlagen: es ist wirklich elektrifizierend, wie hier Einsichten aus einer generellen Zeichenskepsis hervor-, aber auch ausbrechen, die Sprecher ihre Reflektionen mühsam voranschieben, die Reibung an der eigenen Benennungsohnmacht spürbar und mitvollziehbar werden lassen

(„das hieße: jedes sprechen ist verbrauchen. ein wort zu sagen / bedeutet immer, dass ein oder zwei sekunden verloren gehen; / egal, ob dieses wort ‚revolution‘ oder ‚degeneration‘ ist“).

Indem diese Stimme unablässig referentielle und metaphorische Funktionen von Begriffen anzweifelt und dann klumpig ineinander verknotet, gelingt es ihr, die endlose Verschlingung von Tatsachen und Rede wie auf einem Möbiusband immer wieder abzufahren

(„vielleicht ist mein schnee gar kein schnee, / sondern etwas, das mir zeigt, wie dinge verschwinden, / und was verschwinden bedeutet“).

Nicht nur schafft Sun Wenbo es, die Untauglichkeit der (in den Protestgedichten aus den achtziger Jahren, etwa von Bei Dao oder Yang Lian, und auch im deutschsprachigen Raum für politisches Sprechen allzu oft gerne genutzten) Mittel des Symbols und der Chiffre hervortreten zu lassen

(„erst wenn ich sehe, dass äpfel keine panzer sind, und orangen keine / bomben, werde ich wissen, dass ich kein sklave der worte mehr bin“),

sondern auch das Gleitenlassen der Bedeutungen, das Sich-Hervorbringen des Gegensätzlichen, das Umherstöbern der Sprache aus sich selbst heraus, als das produktivste metaphorische Verfahren zu benennen

(„das alles führt manchmal dazu, dass ich von eidechsen spreche, / was eigentlich heißt, über fliegen zu sprechen, / was aber eigentlich heißt, über ekel zu sprechen, / was tatsächlich bedeutet, über die umstände zu sprechen, unter denen wir leben. / dieses gedicht hier zum beispiel – obwohl es mit dem wort schmetterling anfing, / weiß ich, dass es schließlich beim wort politik enden wird“).

Die Politik im Gedicht mit Hilfe eines Yin-Yang-Butterfly-Effects der Sprache: das ist großartig. Die Texte sind deshalb so spannend und sprengend, weil das Politische nicht repräsentativ anzitiert wird, sondern immer die Verarbeitungssysteme für die Ereignisse und Fakten im Fokus sind: wer darf wann mit welchen Mitteln gesellschaftlich wirksam sprechen? Vielleicht sind diese Gedichte, die sich thematisch vor allem mit der Frage befassen, wie man zugleich poetisch und politisch sprechen könnte, bereits genau eine ausgeführte Antwort auf das, worüber sie nachdenken. Dieser Eindruck bleibt bei mir zumindest nach der Lektüre dieser anregenden Beispiele von Sun Wenbos Poesie.

Kluge poetologische Überlegungen finden sich ebenfalls in den tollen Prosagedichten Wang Pus

(„Gedicht und Einsamkeit bringen einander nicht zur Gärung. Sie schmiegen sich nur aneinander“),

die dann am stärksten sind, wenn sie ihr eigenes subversives Potential hinterfragen, sich absetzen von einer Indienstnahme(„Jeder ihrer Verse will mich rekrutieren“):

„Der Pflüger pflügt, der Ährenleser liest die Ähren. Ab und an befällt einen Kleinbürger, halb Republik, halb Monarchie, an einer Straßenecke eine sentimentale Anwandlung: Er kritzelt ein Gedicht in die U-Bahn und wird verhaftet.“

Die Stimme ist manchmal resignativ, öfter jedoch spielerisch und lakonisch konstatierend. Dies trifft auch auf die beatigen, fetzigen Gedichte von Ya Shi zu

(„das bä-bäm aller herzen, an das literatur sich ranmacht, und die prellungen später“),

in denen eine explosionsartige Imaginationskraft einerseits umherschlägt, andererseits sich damit abwechselnd und regelmäßig zusammenzieht. Dabei entstehen plötzlich einfache Klarheiten, die gesellschaftliche

(„dein hass auf die epoche kann einem ganz schön angst machen“; „in einer derart prallen epoche derart dürr zu sein, ist wirklich unheimlich“)

und poetologische („das schlimmste von allem ist zweifellos vor diesem satz passiert“; „als ich diesen punkt entdeckte, wurde mir klar, wie genau der text dich betrogen hat“) Einsichten ausstrahlen.

Einen Ansatz, Gesellschaftskritik und Alltagsphänomene durch ein ironisches Herunterspielen von Problemen und Banalitäten in die Poesie zu holen, vertritt Jiang Tao. Das ist deshalb nicht ermüdend, distanzierend und überheblich, weil der Witz hauptsächlich dafür verwendet wird, die beschränkte Perspektive des Sprechers zu verdeutlichen („Diese Welt ist offenbar größer als gedacht“). Aus einer solchen Blickrichtung sowie einer vorgespielten Naivität heraus können die in der Öffentlichkeit ausgeklammerten tragischen Umstände und Folgen von Landflucht bzw. Urbanisierung ex negativo auftreten, ohne offizielle Darstellungsweisen zu verlassen:

„Die restliche Welt kann ich nur noch im Fernsehen sehen,
weshalb ich auch weiß, dass die Gesamtlage der Nation
in den letzten sechs Jahren zwar Höhen und Tiefen hatte,
die Erschließung der ländlichen Regionen aber bestens läuft.“

Auch Zheng Xiaoquiong hat eine beeindruckende Lösung gefunden, Gesellschaftskritik im Gedicht zu formulieren: in einer Mischform, die ans Dramatische grenzt, entstehen aus der Addition von szenischen Zooms berührende Welten, die die Grausamkeit der Fabrikarbeit und die Zerstückelung von Seelen und Leibern in der Funktionalität sichtbar machen. Ihr Gedichtzyklus „Das Buch der Arbeiterinnen“ erneuert die Gattung des Porträtgedichts als threnetischen Totentanz zerstörter Körper: verstörend, schmerzlich, dringlich. Sehr aufgewühlt hat mich, wie in den Texten gesellschaftliche Fragen unverschlüsselt und einfach als Anklagen oder Aufzählungen der Missstände erscheinen. Ich habe kaum geglaubt, dass das funktionieren kann, aber hier, aus einer Haltung heraus, die sich nirgendwo absichert, es komplett ernst und genau so meint, den porträtierten Arbeiterinnen einen Körper und einen Namen zurückgibt, ist es eine Wucht. Dieser Ton hat noch lange nachgehallt bei mir:

„schlimm sind nicht wirklich die eigenen schmerzen
sondern wie krank die gesellschaft ist, die sie dir macht
eine endlose reihe von menschen, deren schicksal
identisch mit deinem ist / sie kennen den grund ihrer krankheit
nicht / verlassen die städte, die anderen gehören, gehen in ihre dörfer zurück
wo sie die schmerzen ertragen / und leise sterben / sie sind der stumme teil
ohne den die industrie sich weiter als glänzende landschaft gibt
ohne den die gesellschaft weiter trippt, auf einem aufschwung“

Aus einer feministischen Perspektive rafft auch Lü Yue in überzeugenden Gedichten verschiedenartige Ausprägungen von Gewaltbeziehungen zusammen, indem sie objektivierende Sprachformen für Verhalten (man…), übergriffige Anreden an weibliche Personen und Rollenunklarheiten

(„sture frau, wenn du so kreischst / bist du dann mutiger als wir oder einfach nur leichter zu erschrecken“)

mit einer huschenden Leichtigkeit in der Stimme kontrastiert. Dieses Verfahren lässt auch kurze Szenen entwerfen, in denen viel verhandelt werden kann, sehr viel: Medienkritik, Polizeigewalt, Unterdrückung ethnischer Minderheiten, Stereotypsierungen.

„auf einer straße in paris verhaften ein paar hübsche jung-polizisten eine frau aus tibet, die einen außenpolitischen empfang zu stören versucht. einer verdreht ihr den unterarm, einer greift ihre beine, einer trägt ein lächeln, trägt sie in ein parfümsprühendes polizeiauto, trägt sie auf die fernsehschirme der ganzen welt. auf dem sofa sitzen 5 milliarden richter, sie verlangen, dass die kamera noch ein bisschen näher ranzoomt… wir kennen diese frau nicht, diese frau ist tibeterin, sie ist tadschikin, sie kommt aus ruanda, sie ist eine taliban, sie ist jüdin, wir kennen diese frau, diese frau ist eine frau.“

Neben dem kraftvollen Inhalt ist besonders die Gestaltung des Bandes hervorzuheben: sie ist wirklich unfassbar schön; außen schwarz und glänzende Bronze, innen ein dauerndes Spiel zwischen schwarz und weiß; beides vertauscht sich als Hintergrund und Schrift im Übergang von den einzelnen Einleitungen zu den Gedichtteilen, verfließt und verwischt dann kapiteltrennend in den tollen Tuscheillustrationen der Berliner Buchkünstlerin Yimeng Wu. Einzig unwohl hinterließen mich irgendwie der Titel und das Cover (eine To-Go-Pappbox mit dampfenden Nudeln und Stäbchen darinnen). Nicht dass mir das in Bezug auf Gedichte zu wenig weihevoll oder ernsthaft wäre – den Ansatz mag ich schon, auch den Gedanken, sich aus dem Buch ein paar Häppchen reinzuziehen, das kulinarische Symbol für eine westliche Übernahme chinesischer Impulse. Aber sind gebratene Nudeln wirklich eine gut gewählte erste Assoziation für den Leser, wenn die Anthologie eigentlich den Versuch unternimmt, westliche Klischees über China zu verneinen und die Unreduzierbarkeit dieser Kultur darzustellen? Dies ist vielleicht ein verschwindend kleiner Kritikpunkt an einem Buch, in dem es zwölf beachtenswerte Zugriffe auf aktuelle Möglichkeiten der Poesie zu entdecken gibt. Zahllose Verse blinken entgegen aus diesem faszinierenden Raum zwischen Eindruck und Ausdruck, Beschreibung und Veränderung einer Gegenwart, die immer mehr zu einer uns allen gemeinsamen wird. Oder wie es Wang Pu sagt:

 „Um ein Gedicht zu schreiben, muss ich bedrängt sein von der unendlichen Gegenwart der Dinge.“

und

„Gedichte schreiben heißt: sein Leben ordnen. Doch das ist bei Weitem nicht genug.“

PS: Zur von Rainald Simon ebenfalls auf fixpoetry.com gegebenen, teils harschen Übersetzungskritik kann ich konkret wegen mangelnder Sprachkenntnisse nichts sagen. Generell finde ich es allerdings erst einmal angebracht und spannend zu lesen, wenn jemand wie in diesem Fall philologisch genau mögliche Varianten bedenkt und die getroffenen Entscheidungen bewertet: genau das sollte eine gute Übersetzungskritik meines Erachtens ja leisten. Unangenehm, und dann schlicht auch unfair wird es bei Rainald Simon nur eben dann, wenn er seiner Ansicht nach ungenau übertragene Stellen heraussucht, um die langjährige Arbeit eines ganzen Übersetzerinnenkollektivs an eigenen Erwartungen von einem Gedicht oder von einer Anthologie und stichprobenhaften Spontanübersetzungen zerschellen zu lassen. Als hieße Übersetzen, in Fleißarbeit unter Zuhilfenahme möglichst vieler Wörterbücher die daraus folgerichtige Übertragung zu wählen: und wer sich für eine andere entscheidet, hat eben nicht die richtigen Wörterbücher konsultiert. In der Philologie ist es leider ein bißchen wie in der Physik: je genauer der Blick, desto unschärfer, flüchtiger, ungewisser sind die Phänomene, erscheinen an vielen Orten und nirgendwo fest. Und es ist ja in den meisten Fällen auch ein Hauptcharakteristikum der poetischen Sprache, dass sie die normierten und alltäglich gebrauchten Sprachgewohnheiten und Wortbedeutungen deformiert oder in neuen Kontextverknüpfungen verschiebt oder erweitert. Worte haben unendlich viele Ausstrahlungen und in Gedichten kann ihr textfunktioneller Gehalt den semantischen überlagern. Und aus welcher Position heraus darf man eigentlich jemandem unterstellen, sie habe nicht philologisch genau die Wirkung aller möglichen Varianten einer Stelle auf das Gedicht abgewogen und eine bewusste Entscheidung getroffen, sondern einfach etwas übersehen? Die Unterstellung ist eindeutig die schwächste Form des Arguments. Die Leitlinien ihres Vorgehens bei und Umgehens mit den jeweiligen Problemen und Herausforderungen in den Gedichten der verschiedenen Autorinnen haben die Übersetzer der Chinabox durch die einleitenden Doppelseiten und das ausführliche Vorwort völlig transparent gemacht. Ich meine, man sollte in der Kritik trennen zwischen der Frage, ob die Übersetzung ihren selbst gesetzten Kriterien entspricht, und der von außen herantragbaren Frage, ob die gefundene Übersetzungsstrategie in der Lage ist, die Gedichte adäquat (wiederum relativ zu bestimmten Zielen wie Originalgetreuheit, Modernisierung, Lesbarkeit, Gesamteindruck im jeweiligen Sprachumfeld) zu übertragen. Man käme dadurch vielleicht zu einem differenzierteren Urteil über die jeweils besprochenen Übersetzungen.

PPS Anmerkung der Redaktion: GEDICHTE: Zang Di; Han Bo; Lü Yue; Jiang Tao; Wang Pu; Sun Wenbo; Ming Di; Jiang Hao; Zhou Zan; Zheng Xiaoqiong; Yan Jun. ILLUSTRATIONEN: Yimeng Wu. ÜBERSETZUNG: Marc Hermann; Daniel Bayerstorfer; Yao Chang Pei; Lea Schneider.

Lea Schneider (Hg.)
Chinabox
Neue Lyrik aus der Volksrepublik
Verlagshaus Berlin
2016 · 24,90 Euro
ISBN:
978-3-945832-20-2

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