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Dr. Rainald Simon,

Philologie des Wellensittichs

Da Felix Schiller meine Kritik der Übersetzungen in einem Post scriptum anspricht, einige Anmerkungen: Es geht doch nicht um „Wörterbuchübersetzungen“, so einfach und banal liegt die Sache nicht: Mindestens im Falle des Chinesischen muss es für sprachliche Kritik ein Referenzsystem geben und das ist nun einmal die lexikalisierte Sprache, denn ich kann mich als Nicht-Chinese nicht auf muttersprachliche, sondern nur erworbene Sprachkenntnisse berufen, die es immer qua Referenzwerk abzusichern gilt. Dass ein Übersetzer genau dies tut, ist nun wirklich eine Selbstverständlichkeit. Einzig dieses Herangehen sichert die Solidität, die Vertrauenswürdigkeit einer Übersetzung und mehr: Sie ist Ausdruck des Respekts vor der fremden Sprache und ihren Texten. „Textfunktioneller Gehalt“ und „semantische Überlagerung“ sind gut klimpernde Münzen in der Theorie-Börse, aber erst einmal muss die Währung, sprich die historisch gewachsene und in einen kulturellen (literarischen) Strom eingebetete Bedeutung der Zeichen klar sein.

Ich gebe ein einziges Beispiel, und das habe ich nicht wie Aschenputtel die schlechten Körner mit bösem Blick herausgesucht, im Übrigen habe ich überhaupt keine „Stellen herausgesucht“, sondern es ergaben sich einfach „Stolperstellen“ bei der genauen Lektüre. Lea Schneider hat es im SWR als besonders gelungene Übersetzungsleistung selbstreferentiell herausgestellt: Die Zeile von Sun Wenbo (Chinesisch S. 144) lautet in wörtlicher Übersetzung: „[…] lass mich die Gründung eines Gedichts suchen / was du geben musst: Lasse den Geist über zehntausend Schluchten wandern, so wie der Vogel Péng (Rock) durch die ausgedehnte Leere [des Kosmos] stößt […]“. Der „Große Vogel Péng“ 大鵬 dàpéng ist eine übermächtige, geradezu gigantische Wesenheit, der einer der berühmtesten chinesischen Kollegen Frau Schneiders Li Bo / Li Taibo / Li Bai, 701-762, den berühmten Text in rhythmisierter Prosa (fù) „Vom großen Vogel Péng“ gewidmet hat. Aus dem längeren, hymnischen Text hier nur ein kleiner Ausschnitt: „Seine Füße können einen Regenbogen umspannen, seine Augen Sonne und Mond blenden, er kreist über den sich auftürmenden Wogen in schnellem Flug ohne bestimmte Richtung, Wenn er den Atem ausbläst, dann bilden sich in allen sechs Himmelsrichtungen Wolken und wenn er sein Federkleid ausschüttelt, dann fällt über tausend Li (Klafter) hin Schnee […].“ Li Bai vergleicht sich oder eben den Dichter schlechthin mit diesem omnipotenten Wesen. Bei Lea Schneider (S. 168) heißt es: „um hinzukommen [zum ursprung der lyrik] muss man frei sein wie ein wellensittich, / der alle wege nach rom gleichzeitig fliegt […]“ Dass man ausgerechnet den Wellensittich mit dem nun an Macht und Größe kaum zu übertreffenden mythischen Vogel Chinas gleichsetzen kann, wirkt auf mich, horribile dictu lächerlich. Und noch dazu beginnt ein Kardinalwerk der chinesischen Literatur, nämlich das Werk Zhuangzi gerade mit der Beschreibung des Vogels Péng: „[…] Er erstrahlte voller Glanz im Weltenraum, er thronte auf dem Kunlun-Gebirge, wie von Rauch oder einem Sandsturm verdüstert sich der Tag, wenn er nur einmal die Trommel schlägt und einen Tanzschritt tut […].“ Das nun kann man von dem Wellensittich, der in unseren Breiten außerdem eher unfrei, nämlich im Käfig, seine Tage verbringen muss, nicht sagen. Keine Anmerkung in der Chinabox, wohl übersehen, aber ich fürchte (und unterstelle gar nichts), ich fürchte, dass dieserart Ungenauigkeiten gehäuft vorkommen. In diesem Falle z. B., Felix Schiller, hätte der Blick in ein entsprechendes Referenzwerk sicher ein anderes Ergebnis gebracht – und das ist dann schon solide Fleißarbeit. (Der Hinweis Lea Schneiders auf die Vier-Wort-Prägung (chéngyǔ) 鵬程萬里 ist hier übrigens irreführend!) Aber Lea Schneider möchte laut ihrer Worte im RBB keine „philologische Übersetzung“ vorlegen, aber was denn dann?