Die traurigste Werwölfin der Welt
Magdalena Jagelke kam 1986 mit zwölf Jahren aus ihrem Geburtsland Polen nach Deutschland, hat später Amerikanistik studiert und einen Mastergrad in Bibliotheks- und Informationswissenschaften erlangt. Sie hat eine Reihe von Prosa- und Lyrikveröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften vorzuweisen sowie u.a. eine Einzelveröffentlichung von 2012 mit dem beziehungsreichen Titel "Todesmär", ein schmales Bändchen, das Texte versammelte, die zwischen Kurzprosa und Gedichten changierten. Nun ist ihr neues Prosawerk "Ein gutes Verbrechen" beim sächsischen Verlag Voland & Quist erschienen, ein nur rund 120 Seiten umfassendes Büchlein, das sich, vom Marketing einmal erfreulicherweise nicht mit dem Allerweltsetikett "Roman" versehen, als literarisch erstaunlich dicht und durchkomponiert erweist und von seinem Ton her ebenfalls Jagelkes intensive Beschäftigung mit der Lyrik durchscheinen lässt.
Es erzählt die Geschichte von Tara, deren Vater als Militärangehöriger "in seiner Kaserne in der Nähe Russlands" lebt und deren Mutter sie auf der Suche nach sich selbst und einem erfüllteren Leben verlässt, als Tara noch ein Teenager ist: "Du bist alt genug". Zwar schickt die Mutter regelmäßig Geld und bezahlt die Miete, doch ansonsten unterhält sie keinerlei Kontakt zu ihrer Tochter. Tara telefoniert ab und zu mit dem Vater, der für sie nur soldatisch-unempathische Durchhalteparolen übrig hat. Ein Leben bei ihm erschiene Tara allenfalls als letzter Ausweg; nachdem sie die Trauer und die Fassungslosigkeit über den Verrat der Mutter soweit eingekapselt hat, um weiterleben zu können, versucht sie sich in die Gegebenheiten zu fügen und schafft es auch, völlig allein, ihr Abitur zu machen, ein Studium zu absolvieren und einen Job zu finden. Nach außen hin versucht sie ein normales, unauffälliges Dasein zu führen. Doch sie findet kaum Kontakt zu anderen Menschen, Schulkameradinnen, Kommilitoninnen und Arbeitskolleginnen bleiben ihr fremd. Ihr Selbstempfinden schwankt derweil in ständigem Wechsel zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn, ihre Eigenschuldwahrnehmung entzündet sich an Nichtigkeiten und bleibt bei eigentlichen Verfehlungen oft ganz aus. Auch körperliche Beziehungen gestalten sich flüchtig und schwierig:
"Liebe ist nichts für Idiotinnen wie mich, die sich an manchen Tagen für ein Wunder halten. Gefühle schmelzen unangekündigt."
Bezugspersonen, die Tara in ihren Reflexionen außer Vater und Mutter erwähnt, bleiben Episode. Den Milchhofbauern Feldbach, verarmter Sproß eines alten Adelsgeschlechts, hat sie sich, die sich selbst halb scherzhaft, halb im Ernst den Vornamen "Princesse" gegeben hat, in ihrer Imagination zu so etwas wie einem Ersatzvater auf Distanz auserkoren. Doch in Wirklichkeit sind die beiden nicht mehr als flüchtige Bekannte. Bei einer spontanen Reise in die Banlieues von Paris lernt Tara den Kinovorführer Didé kennen, verliebt sich in ihn, kehrt aber nach einem Wochenende wieder nach Deutschland zurück. Als sich Feldbach in eine Arbeitskollegin von Tara verliebt, kommt es zum unausgesprochenen Bruch mit beiden, Tara zieht sich zurück. Auch ihren Job beginnt sie zu vernachlässigen. Ihr Alltag ist geprägt von der tödlichen Routine, vom verfestigten Hass auf die Mutter und von Tagträumen an Didé, mit dem sie zwar ab und zu telefoniert, der sie aber längst verlassen haben wird, bis sie sich endlich zu einem Wiedersehen aufraffen kann. Ein angekündigter Suizidversuch Taras führt zu ihrer von vornherein einkalkulierten Rettung, aber nicht zu einer Vertiefung irgend einer ihrer ohnehin nur losen Bindungen.
Der Titel von Magdalena Jagelkes aktuellem Buch "Ein gutes Verbrechen" könnte auch auf einen Kriminalroman hindeuten, der mit dem moralischen Für und Wider einer Tat spielt wie in der Genretradition schon unzählige Male literarisch beleuchtet. Doch der Aspekt des rechtlich relevanten Falles, die justitiable Komponente der traurigen Geschichte, die Jagelke erzählt, spielt nicht die entscheidende Rolle, sie bleibt eine Randnotiz: die Mutter macht sich allenfalls einer familienrechtlich zu ahnenden Unterlassung schuldig, und eine strafrechtlich verfolgbare Tat wird nur ganz am Schluss des Buches in wenigen Sätzen - als eine mögliche Lesart - angedeutet. Mehr soll hier nicht verraten werden, auch wenn in Jagelkes Geschichte das Wie natürlich viel wichtiger ist als das Was. Die Frage nach dem "guten Verbrechen" wirft die Familienanwältin Nicole Voss auf, an welche sich Tara wendet, weil sie ihre Mutter im Nachhinein, wenn auch nur aus einer halbherzigen Regung heraus verklagen möchte:
"Sie können froh sein oder leiden. Damit meine ich, dass Sie die Wahl haben. Es gibt Menschen, die das, was Ihre Mutter getan hat, für ein gutes Verbrechen halten. [...] Sie sind frei, Sie haben sich abgenabelt. Leute, die das nicht schaffen, werden selten glücklich. Je früher, desto besser."
Für Voss ist es offenbar die schrecklichere Alternative, von Helikoptereltern überbrütet zu werden, "die Väter oder Mütter, die mit Fürsorge ihre Kinder töten" . Tara, die diametral entgegengesetzte Erfahrungen gemacht hat, treibt Voss' Einstellung immer tiefer in ihre Psychose, die Worte "ein gutes Verbrechen" werden für sie zu "drei irre[n] Bienen", die ständig durch ihre Gedanken kreisen.
Stets wiederkehrende Momente des Übersinnlichen durchziehen Jagelkes Geschichte, verbunden mit mythisch aufgeladenen Begriffen wie Mond, Geist und Wolf, die einen paranormalen Einfluss auf Tara zu haben scheinen. Jagelke lässt dabei offen, ob es sich tatsächlich um spukhafte Ereignisse handelt oder alle Phänomene nicht letztlich psychisch bedingt sind und erklärt werden können. Für die zweite, psycho-reale Welt stehen die immer wieder in verschiedenen Konstellationen auftauchenden Metaphern Milch und Hund, mit welchen die Mutterbindung und Taras schuldbehaftete Selbsterniedrigung inszeniert werden. Tara bezeichnet sich ganz zuletzt dezidiert als wildes Tier, die Assoziation einer Metamorphose zur Werwölfin stellt sich ein, bleibt aber unausgesprochen. Geschickt fasziniert die Autorin ihre Leserschaft, indem sie Genrecharakteristika wie lose Enden durch die Wahrnehmungswelt ihrer Protagonistin schleifen lässt, ohne sie explizit aufzunehmen. Das erzeugt eine schwebende Atmosphäre, die sowohl streckenweise unheimlicher ist als die ausdrückliche Konstruktion eines Horror- oder Mystery-Hintergrundes es je sein könnte, andererseits durch ihre Zitathaftigkeit jene ironischen Brechungen ermöglicht, durch die Taras Handeln sich wieder mit ihrer eindeutig psycho-realen Bezugswelt verbindet und für die Lesenden glaubhaft wird. Auch dabei hilft Jagelke ihre oft lyrische Prosasprache, die sie wohlkalkuliert, wenn es die Seelenlage Taras erfordert, sich auch zu einem gerade noch erträglichen Pathos steigernd einzusetzen weiß:
"Ich stand im nach Tod stinkenden Morast, hatte Angst, darin zu versinken. Ich schrie ob der hellen Sonne am Himmel."
So hat Magdalena Jagelke mit "Ein gutes Verbrechen" eine bewegende, mit viel Empathie und psychologischem Spürsinn gezeichnete Erzählung geschrieben, die obendrein gekonnt und spielerisch mit unterschiedlichen Genres jongliert.
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