Deckende und schmelzende Nostalgieformen
Ich flattere zwischen den Stimmen von Annie Ernaux, Anne Carson
und Christa Wolf hin und her. Worte die mich zu mir
und aus mir herausführen. Ich muss in den Chor einstimmen
vollständig wird er nie sein. Austausch der nur durch mich
stattfinden kann. Alltag und Erkenntnis.
Wenn ich als Rezensent ein Buch aufschlage und das Motto zum ersten von vier Kapiteln lautet:
If you were the interpreter, if that were your task. (Robert Hass)
bin ich, der ich ja tatsächlich nicht nur interpreter bin (das sind wohl alle, die schauen, vielleicht sogar alle, die sehen), sondern dies, in diesem Fall, auch zu meinem „task“ mache, ein wenig verunsichert. Es fühlt sich an, als würde mir direkt am Eingang meine Ausweiskarte abgenommen – „Sie dürfen rein“, heißt es dann, „ aber fragen Sie sich wie alle, ob es überhaupt Ihre Aufgabe ist, zu interpretieren“.
Diese mahnende Geste ist allerdings vermutlich nicht für mich und auch nur zum Teil für die Leser*innen gedacht; es ist wohl eher keine „mind the gap“-Ansage, sondern ein Memo/Credo, das die Dichterin auch oder sogar vor allem an sich selbst gerichtet hat und das sich auf die eigene Arbeit bezieht. Aber in diesem Satz steckt nicht nur der Zweifel an der Aufgabe, sondern auch die Furcht davor, dass es wirklich eine "Aufgabe" ist, die man als Dichter*in übernommen hat. Wie schrieb Albert Camus an einer Stelle in seinen Cahiers: „Wie sollte ein Schriftsteller Marschbefehle geben, während er tagtäglich Vorwärtsgehen lernt?“
Die Schatten unter den Worten
schlagen wie kleine Flügel
im Zimmer umher was
bin ich mehr als eine Dichterin
die nachts wach liegt und
sich erinnert. […]
Und immer wieder zurück
ins Echo: einst einst einst.
Dann dann dann.
Denn auch Schriftsteller*innen sind Menschen, Wesen zwischen Materie und Geist, gefangen in Körpern und eingebunden ins Verrinnen jener kurzen, schnellen Gegenwart; die Schrift vermag Dinge herauszulösen und zu binden, aber der Mensch vor dem Papier wird weder aufgelöst, noch verankert.
Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, dass Schriftsteller*innen „insbesondere“ Menschen sind, insofern, als dass sie sich sehr oft mit ihrem „Menschsein“ konfrontieren und all ihre menschlichen Aspekte zu entscheidenden Motiven, Anregungen und Baustellen in ihrem Werk werden können. Natürlich spiegeln sich Leben und Werk von Autor*innen nicht durchgehend oder vollkommen, sondern stets mit unterschiedlichen Intensitäten.
Im Fall von Nathalie Schmids neuem Gedichtband kann man, glaube ich, davon sprechen, dass Werk und Leben sich auf faszinierende Weise durchgehend spiegeln – wobei oft genug die Frage aufkommt, ob nicht mehrere Spiegel involviert sind und ob die Leser*innen nicht bei manchen Texten in ein ganzes Spiegelkabinett eintreten.
Es ist das Ende des Sommers
und wir denken an nichts anderes
als an das Ende des Sommers. Noch
stehen alle Fenster und Türen offen
wir lassen Ameisenstraßen durchs
Haus ziehen zählen Lichtmotten
in der Dämmerung
„Gletscherstück“ ist, wie bereits erwähnt, in vier Kapitel unterteilt. Die Texte aus den ersten beiden lesen sich – manchmal nur auf den ersten Blick – wie Anflüge von Nostalgie, gepaart mit seinem sehr feinen Gespür für die Wahrnehmung und Platzierung fragiler und flüchtiger Elemente.
Nostalgie möchte ich daher auch nicht als Negativbegriff verstanden sehen. Ich meine keine durch Larmoyanz oder kitschig-schwülstige Schwermut erzeugte Verklärung, sondern eher eine wild und gleichsam spärliche wachsende Sehnsucht, die sich an den Stellen sammelt, wo lange Schatten hinreichen, wo das Vergehen, der Zerfall, noch nicht das abschließende Wort gesprochen hat (oder wo es, für einen Augenblick, eine Erinnerungssekunde, so scheint, als wäre das letzte Wort noch nicht gesprochen – zumindest nicht das letzte „Weißt du noch?“)
Der Rosenstock erfror in jener Nacht
als die Weinbauern mit Wärmelampen
zwischen ihren Reben umherliefen
und zu retten versuchten was noch
zu retten war schaukelnde Lichter
auf einem sinkenden Schiff.
Schmid gelingt es auf bewundernswerte Art, diese rückwärtsgewandten Atmosphären hervorzurufen, eindringlich zu machen, aber auch immer wieder mit Störgeräuschen zu durchziehen. Denn da ist nicht nur Darstellung, da sind nicht nur Bilder, da ist auch eine Stimme, die sich, mit unterschiedlichen Lautstärken, zu Wort meldet, analysiert, offeriert, fest- und klarstellt, fragt und überlegt.
Schmid macht diese Stimme nicht zum Dreh- und Angelpunkt, zum Zentrum, sie ist mehr der Geist in der Maschine des Gedichts, die läuft und läuft, registriert und abbildet.
„Der auf Schönheit angewiesen ist:
Er ist dem Grässlichen ausgeliefert“
schreibt Christa Wolf in ihrem Sommerstück
vor dem wir uns hüten. Wir verfolgen
die Spuren der Katzen legen Steine
auf ihre Exkremente
die sie mit zitterndem Hinterteil
in den Garten würgen.
Wirklich großartig sind auch die anderen beiden Kapitel. Im dritten setzt sich Schmid auf unterschiedlichsten Ebenen mit „Rollen“ und der Existenz als Frau auseinander, in Gedichten die das Gesehenwerden und das sich-selbst-so-oder-nicht-so-Sehen thematisieren, aber auch Mutterschaft und historische Perspektiven/Fälle, wie z.B. die Persona Marguerite Porète (hier ließe sich noch mal an das Spiegelmotiv anknüpfen), der ein besonders energisches, starkes Gedicht gewidmet ist.
Zur Mutterschaft gibt es ebenfalls zwei-drei sehr starke Gedichte, in denen sehr ambivalente Emotionen und ein Anflug von Zerrissenheit zur Sprache kommen und aus denen dennoch eine wahrlich nicht sentimentale, sondern vielmehr ungekünstelte Innigkeit spricht, leicht geritzt von den scharfen Kanten verschiedenster Ängste und Hoffnungen.
Noch wird das Radio lauter
gestellt und um Hilfe beim Backen gebeten
noch gibt es eingegrabene Linien aus Zeit
die mich an euch binden. Stundenpläne und
Abläufe Erzählungen vom Tag.
Im vierten Teil stehen dann das Alter und eine Schwiegermutter im Fokus. Ein letztes Mal beweisen Schmids Verse hier die Behutsamkeit, die den ganzen Band auszeichnet, eine besondere Art zur Aufmerksamkeit einzuladen, jede Szene zu würdigen, Dimensionen von Anwesenheit durch Langsamkeit und gut gesetzte Ruhepunkt auszuloten, die mich einige Male während der Lektüre verblüfft. Alles in allem: ein sehr lesenswerter Band, mir bisher einer der liebsten in diesem Jahr.
Ein zentrales Motiv in dem Band ist der Schnee, der für vieles steht (oder stehen kann), vom weißen Haar bis zur emotionalen Kälte. In manchen Gedichten spielt ein Kälteeinbruch eine Rolle – ein langer Winter oder ein früher, man weiß es nicht genau … jedenfalls liegt bei allen sommerlichen Motiven ein leichtes Grau in den Dingen. Die Note der Nostalgie vielleicht.
Wie ich
noch tiefer eintauche
um zu staunen und
das Staunen wieder zu
verlieren und wie ich lerne
dass dein Schweigen
sich nicht gegen mich richtet
und nicht das Ende bedeutet
von Nähe.
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