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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Die „ganze Welt funkt und flammt”

Annie Dillard am Tinker Creek
Hamburg

Als Annie Dillards Pilger am Tinker Creek, ein Quasi-Journal in der Tradition von Thoreaus Walden, erschien, war es bald vielbeachtet – und zuletzt mit dem Pulitzer Preis (1975) dekoriert, ... als käme es darauf an, möchte man fast sagen, wenn man dieses gewaltige Buch liest, das die Welt so pittoresk zeichnet – wie sie wohl ist. Alles prall, alles Energie, so auch das Buch, das davon berichtet, „sinnesprall” nannte es Riechers jüngst im Tagesspiegel, das paßt recht gut:

„Heute Nachmittag habe ich beobachtet, wie eine Chikadee-Meise herabstieß und hoch oben in einem Tulpenbaum baumelte. Sie wirkte erstaunlich feurig und komprimiert, als ob sich ein riesiges Paar Hände einen Himmelvoll Moleküle gegriffen und wie einen Schneeball zu diesem Energiebündel, diesem fressenden, fliegenden, warmen Festkörperchen zusammengepresst hätte.”

Diese Welt trifft das Ich, das sich in seine Interessen und Begeisterungen fast desintegrieren will, noch im Schreiben der „Erinnerung an etwas Mächtiges, das mit mir sein Spiel trieb.” Es ist ein Werden und ein Vergehen, wie der Frosch, von dem nur ein „Lappen Froschhaut” bleibt, ein Vergehen, das die Autorin einmal erlebt hat, als sie fast an einer Lungenentzündung starb. Die Intensität der Augenblicke blieb, sie „lernte”, so erzählt sie, durch „langsameres Gehen [...] erkennen, wie sehr sich die Qualität des Lichts unterschied”, die alles durchflutet und von allem reflektiert wird. Welt? – Theater. Und:

„Seit fiat lux brennt das ganze Theater lichterloh [...]; was nicht Flint ist, ist Zunder, und die ganze Welt funkt und flammt.”

In Wellen komme, was als Teilchen gehe. Was aber ist, will „vor Möglichkeiten platzen”: Alles ist eine „Ökonomie des Überflusses”, mit – neben dem erwähnten Thoreau, der Thema der Abschlußarbeit Dillards am Hollins College gewesen war, worauf sie eben auch in die Natur drängte – gehöriger Nähe zu Bataille und dessen provokanter religiös-metaphysischer Exzeß-Ökonomie1, wiewohl dieser nicht genannt wird. Bis in den intergenerationellen Kannibalismus, bis in den Sex, der tödlich ist – die „Evolution liebt den Tod” im Überfluß, der doch bleibe: bis in den Körper, eine „Himmelvoll Moleküle” eben, die dann Millionen von funktionalen Einheiten ergeben.

Davor und darin verliert sich die Autorin, vor der Natur, vor der Kunst, „in wasserfarbene Tiefe” tauchend, „in jedem Moment reiner Hingabe an ein beliebiges Objekt”, wobei das manchmal dann doch etwas bildungsbürgerlicher klingt, als es sollte. Goethes Faust und dessen „»Verweile doch!«” wird dann unvermeidlich auch noch zitiert. „Jelängerjelieber”... – Dieses Pathos und diese ironiefreie Kultiviertheit verdanken sich der Jugend der damals 25jährigen; und diese Schwächen sind verzeihlich, zumal angesichts des Reichtums, der hier einmal assoziativ und dann wieder diskursiv ausgebreitet wird.

„Was fange ich an mit soviel Textur, diesen unendlichen Feinstrukturen”, so fragt sich Dillard, so fragt sich aber auch beinahe der Leser, im Strom des Textes, in dessen großartigen Passagen, die in der Tat darin das, was Natur sei, verstehen – oder die Emergenz von Evidenz zuwegebringen, immerhin, immerhin..! Es ist „eine hungrige Welt”, hier: hungriger Leser, man verschlingt das Buch zuletzt. Und dankt der Autorin wie der meist trittsicher ihr folgenden Übersetzerin Karen Nölle, die nach rund 40 Jahren das Buch ins Deutsche übertragen hat.

Ein manchmal feiner und dann oft auch wieder derb-kraftvoller Wirbel – lesen, leben!

Annie Dillard
Pilger am Tinker Creek
Übersetzung: Karen Nölle. Aus der Reihe "Naturkunden"
Matthes & Seitz
2016 · 347 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-334-6

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