"Gesunde Leut‘ sind blind"
Und wieder ein Barockbuch aus dem Hause Reinecke & Voß (oder offenbart der Rezensent da irgendeine Ahnungslosigkeit im Detail, wenn er so grob und ungefähr vom 'Barock' schreibt und nicht stattdessen bloß vom goldenen Zeitalter der Niederlande? – mal sehen …). Diesmal wiederzuentdecken gibt es: "Euphrasia / Augentrost" von Constantijn Huygens, übersetzt und herausgegeben von Ard Posthuma; ein Büchlein, dessen Zwittercharakter rasch hervorsticht, aber für uns Ahnungslose erst leicht einordenbar wird, wenn wir das knappe, aber informative Nachwort (des Übersetzers?) zu Rate ziehen:
[Huygens] wusste, wovon er redete, als er die [sic!] Freundin zur Verdunkelung ihres einen Auges seinen literarischen Augentrost spendete. (…)
Das Gedicht (…) entstand 1647 und war zunächst nur halb so lang und nur für die 57-jährige Freundin gedacht. Aber es wuchs bald über das Private hinaus. Die Handschrift zeigt, dass es in einer zweiten Phase erheblich erweitert und der Name der Freundin zu Parthenine verschlüsselt wurde. (…)
Wurde in der ersten handschriftlichen Fassung die Freundin damit vertröstet, dass es auch unter den Sehenden zahlreiche Blinde gebe, wurde im zweiten Zug der 'Katalog' (…) im Nachhinein (…) erweitert: zu den Geizigen gesellten sich die Prasser [usw.]
Der Text hat also, so, wie er sich uns weit Nachgeborenen darbietet, zugleich eine greifbare private Funktion und eine auf Öffentlichkeit ausgerichtete Form; er kann in seiner Eigenschaft als "Narrenspiegel" auch mitgedacht werden als ein Vehikel, mit dem der Verfasser seine Bildung, seine Witzigkeit und seine vorbildlich protestantische Ethik repräsentieren kann, ohne als Schaumschläger dazustehen – was einem hohen Karrierebeamten, wie Huygens einer wer, zumindest nicht völlig entgangen sein dürfte. Die interpretatorischen Verästelungen, die sich ergeben, wenn wir den "Augentrost" nach diesem Strickmuster lesen – als politische Intervention Huygens' in eigener Sache – werden sich uns jedoch mangels Doktorat in niederländischer Geschichte ohnehin nicht erschließen. Also können wir diesen Subtext, nachdem wir ihn zur Kenntnis genommen haben, auch getrost ignorieren.
Stattdessen können wir auch at face value nehmen, was uns da nebst einer kurzen Vorrede an die gebildeten Leser von Huygens' Zeit vorliegt. Der Text besteht aus 1002 Versen in einem munter dahinmarschierenden jambischen Hexameter. Den Hauptteil, siehe oben, macht ein Katalog von unterschiedlich Blinden aus – die Gesunden "sehen nicht den Segen" ihrer Gesundheit, die Kranken können nicht weiter blicken als bis zu den Schmerzen ihrer Krankheit, die Müßigen stehen in ihrer Blindheit den Hastigen gegenüber etc. Vor diesem Katalog stehen knapp 150 Zeilen, die der Anrede an die ursprüngliche Empfängerin und einer viel persönlicher als das Spätere gehaltenen Meditation gelten, in der es um Vorbestimmung und, sagen wir, Gottes unerforschliches Wirken geht. Unmittelbar nachvollziehbar ist daran die Widmung selbst, die persönliche Beziehung; völlig fremdartig dagegen erscheint (mir, kulturkatholisch sozialisiertem Materialisten, paarhundert Jahre später) das Vertrauen Huygens' in Gottes Plan, in die schlechthinnige Existenz einer metaphysischen Sphäre, in Bezug auf welche das irdische Leben gedacht werden müsste; geradezu kognitiv dissonant wirkt auf mich das Vertrauen darin, …
… dass alle Weisheit hier, nur leeres Stroh ist dort,
damit wir augenlos Sinn und Sermon bedenken? …
Deutlich moderner erscheint der heitere Blindenkatalog – wenn er auch, natürlich, in der selben protestantischen Moralphilosophie geerdet ist, von der eben schon die Rede war, die aber diesmal nicht metaphysisch-fremdartig daherkommt, sondern mehr, äh, praktisch-schwäbisch ("Schaffe schaffe Häusle baue" und so). Zuerst lässt uns der Text denken, seine zentrale Denkfigur sei das dialektische Gegenüberstellen von gegensätzlichen Typen, die dann aus je gegengleichen Gründen "das Rechte", also das "wahre Sehen", verfehlen, ja verfehlen müssten. Aber erstens geht das nicht bei jedem dargebotenen Gegensatzpaar auf – zwischen den Müßigen und den Hastigen etwa ist problemlos ein moralisch überlegenes Tertium zu denken, einerseits-andererseits-und-die-Wahrheit-liegt-in-der-Mitte; aber was ist schon mit dem ersten Beispiel, das uns Huygens gibt, den Gesunden und den Kranken? Wäre da das gottgefällige Mittelmaß ein leichter Heuschnupfen oder so? …
… und zweitens durchbricht der Text dieses Gegenüberstellungsmuster, das uns hier selbst das Versmaß als "natürlich" aufdrängt (dadammdadammdadaaaa? - didummdidummdidömm[l]!), kaum, dass wir uns eingewöhnt haben ins moralphilosophische Mitschunkeln. Mitten zwischen den Vignetten des "zu großen" und "zu kleinen" stehen dann Sachen wie
Die Maler (jetzt wird's ernst!), die Maler, Parthenine,
obgleich aus einer Zunft, der ich mit Achtung diene,
die Maler nenn' ich blind, wie scharf ihr Blick auch sei
(…)
Also nutzt der Verfasser die Gelegenheit, ein paar Bonmots an das, was wir heute den Kulturbetrieb nennen würden, auszuteilen (es kommen auch die Gelehrten, die Autoren und ein paar andere noch dran). Abgesehen nun davon, dass der "Augentrost" streckenweise tatsächlich lustig ist: Interessant für Insassen des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird diese Übersetzung vor allem, weil sie uns einen Blick in einen Alltag erlaubt, der einerseits noch von der wesentlich mittelalterlich-frühneuzeitlichen Annahme grundiert ist, es habe alles in der Natur und der sozialen Ordnung der Welt seinen gottgegebenen Sinn, in den aber andererseits bereits "moderne" Konzepte Einzug halten. Beinahe als Satire auf diesen weltanschaulichen Spagat, den Huygens selbst und seine Zeitgenossen aushalten mussten, dürfen wir den Augentrost lesen …
… und uns ggf. fragen, vor welchem inkommensurablen Etwas wir heutigen blind sind …
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Kommentare
Ich kaue irgendwie an dem
Ich kaue irgendwie an dem Wort „vorbildlich“ es scheint mir ein Symptom. Was heißt schon vorbildlicher Protestant in einer Zeit, in der sich in Deutschland und England Religionskriege entladen und den vorbildlichen Pilgrim fahters selbst der Boden der protestantischen Niederlande zu heiß wird? Braucht man für solche Frage schon einen Doktorhut? (Ich habe keinen.)
Ich glaube, Huygens hatte ein viel distanzierteres Verhältnis zur mittelalterlich frühneuzeitlichen Überlieferung, „es habe alles in der Natur und der sozialen Ordnung der Welt seinen gottgegebenen Sinn“ sondern schließt eher an die alles hinterfragenden Kraftgenies der Renaissance an, er hat den weltanschaulichen Spagat lustvoll ausgehalten, erleidet nicht die Satiere, sondern schreibt sie. So würde denn das, was der Rezensent als „ein paar Bonmots“ am Rande findet, zum Kern der Sache gehören. (Man könnte natürlich auch entschließen z.B. den frühen Heine als ungebrochenen Romantiker lesen und seine ironischen Winke lediglich als schmückendes Beiwerk.)
In jeder Zeit lässt sich für jeden Text denken, er wäre aus irgendwelcher Anbiederung an eine Gruppe entstanden. (Man wird dann Gründe für den Verdacht nennen.)Wenn wir dies bei Braocktexten selbst gegen den Anschein erwägen, sitzen wir vielleicht einer Kanonisierung auf, die auf einer Propagandageschichte der Aufklärung beruht: Man etablierte seinen eigenen bürgerlichen Kulturbetrieb und suchte deswegen Distanz zu den Vorgängern. Seitdem stellt die Schule zwar vielleicht auch zu Recht die Panegyrik in den Vordergrund, sucht aber den windelweichen Kompromiss, indem sie scheinbar anlasslos empfundene Texte als Beispieltexte als die wertvollsten betrachtet. (Diejenigen, die das Reich der eigentlichen Dichtung erst betreten. Merkwürdig, wie sich so die frommen Gryphius oder Gerhard hierzulande eher freischwimmen konnten, als der weltzugewandte Huygens.)
Es hat natürlich ein Geschmäckle den Rezensenten als Verleger eine solche Debatte aufzuzwingen, zumal er ja auch sich gern diesem Gespräch (mangels passendem Doktorhut und kokettierend mit der eigenen Blindheit) entzöge. Aber ich möchte eben diesen Schatten unbedingt loswerden, weil es, so lange er fällt eben kaum andere Orte gibt, wo man barocke Literatur diskutieren kann, als eben unter solchen Texten.
Es lohnt vielleicht, weil Schmitzer sich für mich ansonsten als kluger Leser erweist, der zum Beispiel (hier) mit dem Argument zu den Gesunden und den Kranken (mich) auch zu überraschen versteht.
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