Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

„Held unserer Zeit”

Hamburg

Die vielleicht pointierteste Definition des Opfers findet sich bei Jean-François Lyotards:

„Opfer sein bedeutet, nicht nachweisen zu können, daß man ein Unrecht erlitten hat.”

Paragraph 9 seines Buchs Der Widerstreit (Le Différend) ist Horizont des Diskurses: Opfer ist ethisch der Horizont unseres Agierens, das sich nicht fetischisierend um es bemüht, sondern seinen Status aufhebt, hegelianisch dies soweit, als die Suspension nicht glücken kann, wo das Opfer in seinem Nicht-Nachweisen-Können dessen, was es zum Opfer machte, verbleibt – wie die industriell sprachlos Gemachten unter den Nazis: die Vergasten. Was ihr Verlust ist, ist von den Überlebenden nur als Lebenden zu beschreiben, der Horizont bleibt hier negativ.

Vor ihm erscheint denn auch besonders obszön, was Giglioli Die Opferfalle nennt: das Verführerische des Anspruchs, Opfer zu sein, der oft eine Umkehr in Gang setzt, am auffälligsten an den Nationalisten, die sich als Abwehrkampf zukünftiger Opfer inszenieren. Die ihre „Man wird doch noch sagen dürfen”-Rhetorik mit einer Taktik ständiger Empörung über das, was man wirklich doch noch sagen kann, verbinden. Das Opfer, „Held unserer Zeit”, wie der Autor schreibt, gewinnt in der Ökonomie der Aufmerksamkeit, der Mißbrauch des Opfer-Begriffs desensibilisiert indes: womit der Kreis sich schließt, ein Teufelskreis.

„Das Opfer ist der Held unserer Zeit. Opfer zu sein verleiht Prestige, verschafft Aufmerksamkeit. Es immunisiert gegen jegliche Kritik.”

Daß Giglioli dem Teufelskreis in seinem Manifest für Selbstbestimmung und Politisierung versus die Bequemlichkeit des bereitwilligen Opfers selbst nicht völlig entgeht (und außerdem seine Revue anderer Denker reichlich plakativ dazu dient, sich als neuer Denker zu gerieren), ist die schlechte Nachricht bei diesem Band – die gute: daß er ein wichtiges Thema aufgreift.

Daniele Giglioli
Die Opferfalle
Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt
Übersetzung: Max Henninger
Matthes & Seitz
2015 · 126 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-95757-150-2

Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge