Das Hirn ist kein Computer! Was dann?
Das Bild vom Gehirn als Computer hält sich vehement in unseren Köpfen. Dabei hat es mehr mit unserer Gegenwart als mit der Realität unseres Denkorgans zu tun. Das Bild des Geistes ist ständiger Veränderung unterworfen. Die Metaphern, die wir für den Geist finden, ändern sich mit der Lebensrealität der jeweiligen Zeit, die wir betrachten. Richtet man den Blick auf die Gegenwart, sprechen wir vom Gehirn als Computer, vom Geist als Software. David Gelernter, ein bekannter Informatiker und Kulturjournalist, hat nun ein Buch über “Die Gezeiten des Geistes” geschrieben. Das zunächst Überraschende an seinem Buch schlägt einem auf den ersten Seiten entgegen: Er wendet sich nämlich gegen die Idee eines computerisierten Gehirns, plädiert für ein ganz anderes Modell des Geistes. Eine spannende Ausgangslage, stellt sich dem Leser nämlich die Frage: Was hat ein Informatiker über den Geist zu sagen? Wie widerlegt er das Theorem vom Geist als Software, dem Gehirn als Hardware?
Gelernter beginnt sein Buch mit einem kurzen Abriss über die Argumente für der Computertheorie des Gehirns. Grundlage für diese Argumente ist, dass das Gehirn aus vielen Milliarden Neuronen besteht (ca. 100 Milliarden, um genau zu sein) – einer unendlich großen Zahl von Einheiten, die wiederum verschieden miteinander verknüpft sein können. Diese materielle Grundlage interpretieren die Anhänger der Computertheorie als Beweis für ihre Thesen. Sie übertragen die Architektur des Computers auf die Architektur des Gehirns. Die Binärschalter im Computer, die entweder ein- oder ausgeschaltet sein, entweder auf 0 oder auf 1 stehen können, entsprechen den Neuronen. Computer und Gehirn: beide sind verschaltete Systeme. Verschaltet man also einfach nur genug Einheiten miteinander, dann müsste, so die Vermutung, früher oder später quasi automatisch eine Form von künstlicher Intelligenz entstehen. Ist der Geist deswegen nichts anderes als eine komplexe Software auf einem sehr komplexen organischen Computer?
Diese Frage beantwortet Gelernter mit einem entschiedenen Nein und holt sich Hilfe aus der Philosophie: Thomas Nagel und Jean Searle sind seine Gewährsmänner, beide vehemente Gegner der Idee des Gehirns als organischer Computer. Knapp gesagt, sehen beide die aktuellen Werkzeuge der Wissenschaft als ungeeignete Mittel, um die Komplexitätstiefe des Bewusstseins zu verstehen. Sie wissen nicht was und wie, aber sie gehen beide davon aus: Da ist mehr.
Diesem Mehr nähert sich Gelernter nun selbst auf seine ganz eigene Art. Er zieht das Meer heran, bedient sich der Metapher der Gezeiten und stellt ein ganz eigenes Modell des Bewusstseins auf. Der Autor unterteilt den Geist in zwei klar voneinander getrennte Bereiche: den bewussten Geist und das Gedächtnis, das er mit der Erinnerung gleichsetzt. Entlang einer vertikalen Achse entwickeln sich die Gezeiten. Jede Ebene des Bewusstseins hat eigene Qualität, und der Fokus unseres Bewusstseins kann immer nur auf einer der Ebenen sein. Ganz oben im Spektrum des Bewusstseins steht der reine Geist, bis ganz unten das reine Sein ankommt. Der Übergang ist fließend, deswegen spricht das Buch gerne vom Dritteln des Spektrums. Jeder Teil des Spektrums erlaubt bestimmte Prozesse, hat bestimmte Funktionen. Der reine Geist ist der Ort des rationalen Denkens, das reine Sein kann ein Ort der meditativen Versenkung, aber auch das Traumes sein.
Praktischerweise korrelieren diese Ebenen mit unserem Tagesverlauf, mit der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen und anderen Strukturen. Gelernter stellt ein System auf, und dieses System ist in sich stimmig. Er ist überzeugt von seinem System und wendet es wild auf alles an. Dabei nimmt er eine Erzählhaltung ein, die einladend wirkt, aber auf Dauer etwas an eine langweilige Vorlesung erinnert. "Die Gezeiten des Bewusstseins" ist ein Band voller Redundanzen, mehr Essay und Gedankenexperiment als wissenschaftliche Abhandlung. Gelernter nimmt seinen Leser nicht mit, er hat vielmehr sich selbst im Blick. Er gefällt sich als Erzähler zuweilen so sehr, dass er sein Thema vergisst und deswegen ins Wiederholen kommt. Er verliert sich in nichtssagenden Anekdoten, und anstatt seinen durchaus interessanten Standpunkt zu verdeutlichen, verwässert er ihn.
Die Operation, den Geist entlang einer Vertikalen zu zerlegen, kann interessant sein. Den verschiedenen Bereichen des Geistes verschiedene Qualitäten zuzuschreiben ebenso. Aber Gelernter ist, bereits beim Postulieren seiner Theorie, dogmatisch. Seine eigenen Erfahrungen und seine Lesarten von Klassikern der Literatur unterstützen seine These. Er verzichtet dabei ganz auf die Lektüre von Texten zu Meditation und anderen Bewusstseinszuständen. Weder spielen die Experimente mit Drogen, noch nicht-westliche Quellen eine Rolle in seinen Auslegungen. Gelernters eingeengter Blick macht "Die Gezeiten des Geistes" zu einer flachen Angelegenheit.
Interessant ist seine Perspektive auf Emotionen. Sie sind für ihn, da ist er ganz Informationswissenschaftler, eine sehr verdichtete Zusammenfassung von Informationen. Ein Gefühl kann die verschiedensten Situationen miteinander verbinden. Es braucht, als Recheneinheit gedacht, eine extrem große Rechenleistung. Aber genau hier verrät sich der Zwiespalt des Autors: Er will zwar die Computertheorie vehement widerlegen, aber auch er kommt nicht umhin, hin und wieder Metaphern aus der Computersprache zu entlehnen.
Zu strukturiert, zu starr, zu passend sind die Gezeiten des Bewusstseins. Die Beweise, die der Autor heranzieht, kommen aus dem Bücherregal einer gutbürgerlichen Bibliothek. Descartes hier, Shakespeare da - Weltliteratur, oh, Pathos! Dann fällt einem wieder ein, dass der Autor eigentlich Informatiker ist. Die humanistische Grundbildung sitzt, aber das macht dieses Buch mehr zu einer interessanten Schreibübung denn zu einem multidisziplinären Experiment. Der Autor hält sich selbst für bahnbrechend, aber leider hätte es für dieses Buch ein bisschen weniger Papier auch getan. Seine Thesen sind interessant, sie regen zum Nachdenken an, aber ihnen fehlt die Fluidität. Sein Buch wirkt wie aus den 1970er Jahren. Mit dem 21. Jahrhundert hat sein philosophisches Reflexionsniveau leider wenig zu tun. Das ist schade, bleibt er doch durch den selbst formulierten hohen Anspruch hinter dem zurück, was er eigentlich mit diesem Buch erreichen könnte: ein vorsichtiges Nachdenken und Ausloten der Gezeiten.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben