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Kritik

Romane, die einzigen funktionierenden Zeitmaschinen

Eine Hommage an Kurt Vonnegut
Hamburg

Kurt Vonnegut – ein verkannter Autor in Millionenauflage, „Amerikas schlechtester Schriftsteller“ (Gore Vidal) – „an American genius“ (Kurt Vonnegut über sich selbst in Palm Sunday).

Ich bin Skeptiker, kein Zyniker, ich misstraue nicht den Motiven der Menschen, sondern ihrer Intelligenz.

Skeptiker war Kurt Vonnegut auch in Bezug auf sich selbst. Er war immer auch ein sehr politischer Autor, überschätzte die Wirkungsmacht seiner Texte jedoch nie:

Fast schon sprichwörtlich ist Vonneguts Vergleich der Wirkung seiner Texte mit der „Sprengkraft einer großen Bananencremetorte von zwei Metern Durchmesser, zwanzig Zentimeter Dicke, abgeworfen aus zehn Metern Höhe oder mehr.“

Eine Biographie als Einstieg in das umfangreiche Werk eines Autors – bei kaum jemandem ist dies wohl so sinnvoll, wie bei Kurt Vonnegut. Denn seine Romane praktizieren eine radikale Vermischung von Autobiographischem und Fiktion. In seinem bekanntesten Roman Slaughterhouse-Five beispielsweise verarbeitet er seine Kriegserlebnisse – als amerikanischer Soldat erlebte er die Zerstörung Dresdens mit – doch die Handlung des Romans ist auf dem Planeten Tralfamadore angesiedelt. Schon der vollständige Titel des Romans bringt die Verflechtung von Realem und Fiktivem auf den Punkt. Denn selten erfährt man beispielsweise in Untertiteln von Romanen, dass der Autor zu viel rauchen würde. Der vollständige Titel dieses Romans lautet:

Slaughterhouse-Five
OR
THE CHILDREN’S
CRUSADE
A DUTY-DANCE WITH DEATH

Kurt Vonnegut, Jr.

A FOURTH-GENERATION GERMAN-AMERICAN
NOW LIVING IN EASY CIRCUMSTANCES
ON CAPE COD
[AND SMOKING TOO MUCH],
WHO, AS AN AMERICAN INFANTRY SCOUT
HORS DE COMBAT,
AS A PRISONER OF WAR,
WITNESSED THE FIRE-BOMBING
OF DRESDEN, GERMANY,
“THE FLORENCE OF THE ELBE”,
A LONG TIME AGO,
AND SURVIVED TO TELL THE TALE.
THIS IS A NOVEL
SOMEWHAT IN THE TELEGRAPHIC SCHIZOPHRENIC
MANNER OF TALES
OF THE PLANET TRALFAMADORE,
WHERE THE FLYING SAUCERS
COME FROM.
PEACE.

Kurt Vonnegut wehrte sich dagegen, dass seine Romane Science Fiction wären. Er  ist ein Bestsellerautor, der trotz seines großen Erfolgs verkannt wurde und immer noch wird. Seine Romane polemisierten, wurden mehrmals aus Schulbibliotheken verbannt und einmal sogar öffentlich von einer Schule verbrannt. Denis Scheck bezeichnet es als ein „Rätsel der Literaturgeschichte“, dass ein so erfolgreicher Autor, dessen Lebensgeschichte und Romane so eng mit der Geschichte Deutschlands verbunden sind, im deutschen Sprachraum immer noch so wenig wahrgenommen wird.

Und Kurt Vonnegut wehrte sich nicht nur gegen eine Abstempelung als Science-Fiction-Autor, sondern auch gegen sonstige „Schubladen“. Besonders radikal sprengt er Grenzen in Palm Sunday. An autobiographical Collage. Hier führt er die unterschiedlichsten Genres zusammen und verbindet Reden, Essays, Briefe, Kurzgeschichten, ein Selbstinterview oder eine Predigt von sich zu einem Buch. Doch damit nicht genug inkludiert er auch fremde Texte, mitunter sehr persönliche, wie z.B. den Bericht eines alten Freundes seiner Familie über die Lebensgeschichten seiner Vorfahren oder die Rede seines Urgroßvaters, welche dieser für sein eigenes Begräbnis geschrieben hatte.

Die Biographie von Denis Scheck stellt den Autor und die Person Kurt Vonnegut in den Mittelpunkt. Wie wurde aus dem Architektensohn Kurt (genannt „K“), der von seiner Familie dazu gezwungen wurde, Chemie zu studieren, der Erfolgsautor Kurt Vonnegut? – ist die Schlüsselfrage, der die Biographie nachgeht.

Biographische Details werden immer in Hinblick darauf genannt, wie sie das Schreiben von Kurt Vonnegut beeinflusst haben.

Der Eindruck, den die Verarmung der Familie während der Weltwirtschaftskrise auf Vonnegut macht, ist nicht zu unterschätzen. Der Achtjährige erlebt, wie die als unerschütterlich geltende Welt bürgerlicher Wohlhabenheit seiner Eltern praktisch über Nacht aus den Fugen gerät. […] Später wird dies zu einem Grundmotiv seines Schreibens: der in allen seinen Romanen aufscheinende Relativismus […]

In den Romanen von Kurt Vonnegut findet sich sehr viel Biographisches mit eingeflochten, weswegen die biographische Annäherung an den Autor laut Denis Scheck auch die vielversprechendste sei:

In einer so ahistorischen Gesellschaft wie der amerikanischen fällt besonders die Hartnäckigkeit auf, mit der Vonnegut sowohl die Weltgeschichte als auch seine private Familiengeschichte immer wieder in sein Schreiben einbezieht. […] Die biographische Annäherung an Vonnegut ist denn auch der vielversprechendste Weg zu einem Verständnis seines Werks, das bei der Kritik eine heillose Sprachverwirrung ausgelöst hat.

Denis Scheck schreibt die Biographie sehr nah am Werk und an der Person Kurt Vonneguts. Er erzählt über Kurt Vonnegut und geht dabei von sich selbst und seinem persönlichen Bezug zum Autor und seinem Werk aus. Beim Erzählen und Nachdenken über Kurt Vonnegut kommt er sich dabei selbst wie eine der Romanfiguren vor, welche zwischen den Zeiten springen:

Oder bin ich, wie Winston Niles Rumford aus Die Sirenen des Titan, in ein „chronosynklastisches Infundibulum“ geraten? Hat mich ein „Zeitbeben“ erfasst, eine „plötzliche Panne im Raum-Zeit-Kontinuum“, wie Vonneguts Alter Ego Kilgore Trout?

Ganz nebenbei wird von persönlichen Begegnungen mit Kurt Vonnegut berichtet. Gerade in diesen beiläufig erzählten Episoden lässt sich der Mensch hinter dem Namen Kurt Vonnegut erahnen.

Bei all meinen Besuchen bringe ich ihm eine Stange Pall Mall ohne Filter mit, die Zigarettenmarke, über die er in seinen Büchern immer wieder schreibt, das verhasst-geliebte Gift, mit dem er über fünfzig Jahre lang Selbstmord auf Raten begeht.

Details aus dem Leben von Kurt Vonnegut, welche sich gut als „Stoff für die Boulvardpresse“ eignen würden, erwähnt Denis Scheck hingegen eher unwillig und bewusst nüchtern – öffentlich zelebrierte Ehekrisen, mehrere Selbstmordversuche, oder sein schlussendlich buchstäbliches „in-den-Tod-Stolpern“:

Vonnegut stolpert Mitte März 2007 beim Gassi gehen über die Leine seines schneeweißen Malteserhündchens Flour und zieht sich auf der Treppe zu seinem Brownstone-Haus eine schwere Kopfverletzung zu, an deren Folgen er vier Wochen später stirbt, ohne aus dem Koma zu erwachen.

Die Reihe, in der die Biographie zu Kurt Vonnegut erschienen ist, trägt den Titel „Leben in Bildern“. Und tatsächlich wird Bildern viel Raum zugestanden. Die gesamte Biographie ist so aufgebaut, dass jeweils eine Seite mit Bildern einer Seite mit Text gegenübersteht, sich also Bild und Text immer abwechseln. Die Fotos zeigen nicht nur Kurt Vonnegut in verschiedenen Lebensabschnitten, sondern auch Verwandte von ihm (wie seinen Bruder Bernard, welcher als Wissenschaftler „die Möglichkeit der künstlichen Wetterbeeinflussung durch Impfen von Wolken“ untersuchte), im Text erwähnte Orte (wie Indianapolis, seinem Geburtsort, oder Dresden) und Personen (Mark Twain, Laurel & Hardy und viele mehr).

Stil und Erzählweise des Bandes unterscheiden sich von herkömmlichen Biographien. Ein kurzer Verweis hinten im Buch erklärt, woran man diese Andersartigkeit festmachen kann. Denn dort ist zu lesen, dass der Text des Buches auf einem Radiofeature sowie einem Essay beruht. Und tatsächlich hat das Buch im Aufbau und der Präsentation noch viel von einem Radiofeature beibehalten. Das Sprechen ist auch noch in Buchform sehr präsent. Das Buch vermittelt die Stimmung einer Gesprächssituation. Denis Scheck erzählt uns aus dem Leben von Kurt Vonnegut. Und auch die Stimme von Kurt Vonnegut wird im geschriebenen Text greifbar. Einerseits durch die vielen Zitate. Andererseits durch die genaue Beschreibung seiner Art zu Sprechen und seines Kettenraucherlachens:

Bei allen unseren Gesprächen beeindruckt mich am meisten die frappierende Übereinstimmung zwischen Vonneguts Art zu reden und seiner Art zu schreiben. […] Wie in den Kurzkapiteln seiner Romane läuft fast alles, was Vonnegut erzählt, auf eine Pointe hinaus, die nicht selten im rauen, kurzatmigen Gelächter und Gehuste des Kettenrauchers unterzugehen droht.

Am Ende des Buches findet sich noch eine „Zeittafel zu Kurt Vonneguts Leben und Werk“, die durchaus lohnenswert zu lesen ist. Besonders schön beispielsweise der Eintrag zum Jahr 1977:

Vonnegut besucht die Frankfurter Buchmesse sowie das Münchner Oktoberfest und reist anschließend nach Wien und Italien.

Das Ziel, welches Denis Scheck mit seiner Biographie verfolgt, ist es neugierig zu machen – auf den Autor und Menschen Kurt Vonnegut, aber auch und vor allem auf seine Romane. Und das gelingt ihm auch. Denn nach der Lektüre der Biographie über Kurt Vonnegut von Denis Scheck ist die große Frage nicht, ob man nun zu einem Roman von Kurt Vonnegut greifen sollte, sondern: zu welchem zuerst?

Kurt Vonnegut

Denis Scheck
Kurt Vonnegut
mit 39 Schwarzweiß- und Duplexabbildungen
Deutscher Kunstverlag
2014 · 80 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-422-07239-8

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