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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Lunare Effluxionen

Hamburg

Der französische Haudegen Savinien Cyrano de Bergerac, der eigentlich Hector Savinien de Cyrano hieß und heute vor allem als großnasige, wortgewandte Figur aus der Komödie von Edmond Rostand und den darauf basierenden Verfilmungen bekannt ist, war ein seinerzeit gar nicht unbedeutender Schriftsteller mit aufklärerischen, gesellschaftskritischen Ambitionen, die posthum in den als Vorläufer der Science-Fiction geltenden Romanen Les États et Empires de la Lune (1657) und Les États et Empires du Soleil (1662) publiziert wurden. Die Gestalt des Cyrano de Bergerac und seine imaginäre, mit überbordender Phantasie ersponnene Mondreise bilden die sehr für andere Weltraumfahrer und Mondbetrachter durchlässige Folie in Durs Grünbeins jüngstem Gedichtband, der als sein wohl interessantester seit dem langen Epos über René Descartes in Deutschland („Vom Schnee“, 2003) gelten darf.

In der Lyrik hat der Mond seit Matthias Claudius’ revolutionärem Gedicht nur eine eher untergeordnete Rolle gespielt; öfter erscheint er als Mondnacht und Mondlicht denn als echtes Gestirn am Himmel, und taucht mit elementarer Wucht nur selten auf, wie bei Robinson Jeffers beispielsweise. Die Prosaliteratur hingegen hat ihre Space Operas längst in viel entlegenere Tiefen des Alls zu fremden Monden geschickt, doch auch dieses Genre ist beinahe obsolet geworden. Als Ziel der wettstreitenden Supermächte war der Mond, unser Mond, für kurze Zeit noch einmal interessant, doch der „Mond der Zukunft wird zur Rohstoffquelle, und Supermacht ist, wer seine Ansprüche auf ihn raumfahrt-technisch durchsetzen kann“ — so jedenfalls behauptet es Durs Grünbein in dem anregenden Essay, der seine in „Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond“ unternommene Meditation über die Beziehung des Menschen zu dem Erdtrabanten sinnreich ergänzt. Die zu acht Zyklen geordneten insgesamt 84 Gedichte kartographieren die Mondkrater, ziehen zugleich aber auch eine gewaltige Traverse durch die Geschichte der Monderkundung und Mondimagination, bei der sich Anspielungen auf das Werk und Leben des Cyrano de Bergerac mit feinen Andeutungen auf die jeweiligen Namensgeber der Krater vermengen, so daß die Erforschung durch Astronomen, Mathematiker und Piloten durch die dichterische Mond- und Mondgeschichtsvermessung begleitet — oder konterkariert? — wird.

Bildung, so ist öfters zu vernehmen, vergrätze die Kritiker. Doch konstituiert sie ein Gutteil (und nicht den schlechtesten) der Lyrik. Wo Grünbein diese (nebenbei: jedem Belesenen geläufigen) Allusionen einarbeitet und nicht leichterhand nur einstreut, ist es ein Genuß, der Reise zu folgen, die von der Antike bis in die Gegenwart führt und den verschiedenen philosophischen, religiösen, metaphysischen, imaginär-metaphorischen und technisch-erobernden Aspekten der Mondanschauung nachzusinnen. Der Stil der großenteils in Terzetten abgefaßten, locker mit reinen und unreinen Reimen durchsetzen Gedichte ist schwebend, leichtfüßig, eine Melange aus Erhabenem und Alltäglichem, aus gereimten und prosanahen Zeilen, aber nie vollends abgehoben, denn von der Reise spricht erst, wer zurück ist: „Er singt uns die Hymne, sein Wiederkehrlied. / Und die Erdenluft sagt ihm: es gibt nur sie.“ Wer zurück ist, der weiß eben auch die Schwerkraft zu schätzen. Selbst wenn sie die „Unendlichkeitssehnsucht“ mit der Unerreichbarkeit konfrontiert und in desinteressierten „Schwindel“ auflöst. Der Mond, sagt Grünbein, schwebt „über den Städten als Leuchtreklame, die aller Architektur die Krone aufsetzt. Er ist und bleibt der große I-Punkt im Alphabet der Landschaften. Ansonsten läßt er uns kalt“, es sei denn, der „stumme Begleiter der Erde wird zum Touristenziel zahlungskräftiger Freizeitabenteurer“ erklärt. Es wird also höchste Zeit, daß der Mond wieder zum Träumen einlädt, über den „absurden Abstand“ hinweg, und die Grenzen der Einbildungskraft bewegt. In diesen Weltinnenraum lädt die Dichtung ein, das ist ihr heutiges Privileg.

Am Ende der Lektüre läßt sich indes der Eindruck nicht gänzlich unterdrücken, daß die vorliegenden Gedichte zwar nicht schlecht gemacht sind, zuweilen aber genauso kalt bleiben wie die leeren Meere des Mondes, eine Reißbrettpoesie, die viele originelle Bilder findet — „Was ist der Mond? Der treue Hund der Erde“; „Er hält die Pole, macht das Meer zur Wasserwaage“ — und sich unmittelbar daneben im Banalen verirren kann („Ein runder Trost in einer Welt voll Schlachten, Jammer“; „Wie klein ist das Große?“) oder allzu bemüht eine Jetztzeitbindung demonstriert („Ein Tanker kentert, quergestellt, im Kattegat“). Den mitunter moralisch aufgereckten Zeigefinger mag man dem Autor mit zustimmendem Kopfnicken nachsehen, weil Poesie durchaus das Recht der Mahnung hat, nicht jedoch den schulmeisterlich erhobenen und manchen füllsel- und floskelhaft dürren Gedanken:

Wie mit den Bildern gehts mit Gedichten. Manche
Entzücken von nahem, andere erst aus der Ferne.
Dieses liebt Dunkel, jenes den hellichten Tag.

Nein, dunkel oder unbequem verquer sind Grünbeins neue Cyrano-Gedichte allemal nicht. Sie haben sich zwischen den Daunen des Feuilletons eingerichtet und parlieren auf nette Weise mit den Resten eines bildungsbürgerlichen Publikums, dem es an nichts fehlt außer dem intellektuellen Kitzel in einer Mußestunde. Es sind Gedichte, die niemandem schaden und keinem wehtun. Das diskreditiert Grünbeins Werk keineswegs grundsätzlich, es soll vielmehr zeigen, daß es sich innerhalb der Grenzen eines gewissen wohlgesättigten Anstands bewegt, ohne wirklich etwas zu bewegen. Man liest diese Gedichte, lächelt unzufrieden, erfreut sich an den Anspielungen, am Aufblitzen origineller Formulierungen, an ästhetischer Raffinesse — hat viele jedoch nach kurzer Zeit schon wieder vergessen. Im Politikerjargon: Es fehlt ihnen an Nachhaltigkeit. Metaphorischer gesagt: an Dornen und Messerspitzen.

Durs Grünbein
Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond
Suhrkamp
2014 · 151 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42415-5

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