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Kritik

Teschuwa oder die revolutionäre Kraft des Gesetzes

Ein Buch, aus dem die lebendige Gegenwart spricht.
Hamburg

In die Zukunft zu schauen, impliziert im Judentum
immer das Bewusstsein der Vergangenheit.

(Julian Voloj)

Von engagierten Büchern zu sprechen, mag mitunter dem Handumdrehen des Floskelhaften entspringen, im Falle dieser Publikation hat das Wort seine Berechtigung. Elisa Klaphecks Auseinandersetzung mit Leben und Werk Margarete Susmans (1872-1966) ist weit mehr als Interesse für eine „Thematik“; gerade in seinen Schlüsselmomenten stellt das Buch die Reflexion der eigenen geistigen Biographie der Autorin dar, ist Ausdruck eines persönlichen Anliegens, Ergebnis und Fortsetzung ihrer täglichen Arbeit als Rabbinerin in der liberalen Synagogengemeinschaft „Egalitärer Minjan“ in Frankfurt am Main. Wirft man zudem einen Blick in Elisa Klaphecks frühere Veröffentlichungen – „Fräulein Rabbiner Jonas: Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ (1999/2000), „Wie ich Rabbinerin wurde“ (2005/2012) –, so erschließt sich umso deutlicher, wie eng dieses Schreiben mit der Biographie der Verfasserin verwoben ist.

„Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie“ – im Titel schon ist der Akzent gesetzt, der einem am geläufigen orientierten Blick unter Umständen unkonventionell erscheinen könnte. Doch bewiese ein solches etwaiges Erstaunen nur die Notwendigkeit dieser Arbeit, die nicht zuletzt Antworten auf die Frage gibt, warum dieser Beitrag so lange nur peripher behandelt, ja oft auch schlicht nicht wahrgenommen wurde. Eben hier, in der kritischen Revision „deutscher“ Geistesgeschichte, die Elisa Klapheck aus den Schriften Susmans entwickelt, gewinnt das Buch seine elektrisierende Aktualität. Wie viele vermeintliche Gewissheiten nach dieser Lektüre so gewiss nicht mehr sein wollen, wie viele leichtfertig ad acta gelegte Fragen sich erneut beunruhigend lebhaft regen, mag jeder Leser / jede Leserin dann für sich entscheiden.

Margarete Susman, geboren in Hamburg, wuchs in einer großbürgerlichen Familie auf. Sie war Schülerin Georg Simmels, stand in engem Austausch unter anderem mit Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gustav Landauer, Ernst Bloch und später auch mit Paul Celan. Als sie 1933 in die Schweiz emigrierte, verblieb sie zwar im deutschsprachigen Raum, doch löschte die NS-Diktatur ihre Schriften aus dem Gedächtnis bzw. die Erinnerung zerstreute sich auf den Wegen der Emigration. Aufschlussreich sind die beiden Phasen der „Wiederentdeckung“, auf die Elisa Klapheck verweist: Die erste fiel in die 1950er Jahre und zeichnete „ein sehr zum Christentum hin tendierendes Bild“; die zweite, initiiert von Ingeborg Nordmann und Barbara Hahn in den 1990er Jahren, stand „im Zeichen feministischer Frauenforschung“, wobei wiederum die religiösen Aspekte in den Hintergrund traten.

So beginnt Elisa Klapheck ihre Darstellung mit einem grundlegenden Kapitel zum Begriff der „Politischen Religion“: Aus der Bindung an das „Gesetz“ (die Tora) in der spezifischen Situation der Diaspora, mit der eine „Verschiebung vom Kult zur Auslegung“ einhergeht, entfaltete sich ein Denken, das den Einzelnen – in seinem Partizipieren an der Wirklichkeit – in das Schöpfungswerk einbezieht. Denn zum einen ist der Text der Offenbarung Gegenstand einer fortwährenden diskursiven Auseinandersetzung (niedergelegt im Talmud), und zum anderen schreibt der Gedanke des Tikkun olam, der „Reparatur der Welt“, jedem Einzelnen seine Verantwortung zu im Hinblick auf die Umsetzung des messianischen Versprechens. Jüdisches Denken enthält somit die Momente politischen Denkens par excellence, weil es in den Auslegungen der Schrift vor allem mit der Frage befasst ist, wie der Mensch – hier und jetzt – sein Leben gestalten sollte, um ein Glück zu erlangen, das sich nicht erschöpft in krudem Materialismus.

Indem Elisa Klapheck die Muster aus Susmans Texten herausarbeitet – die Idee des Dialoges etwa, des „Angesprochenwerdens“, den Bezug des Ich zu einem Du –, verdeutlicht sie, dass dieser „jüdische Beitrag“ mehr ist als die explizite Abhandlung eines „Themas“. Schon in den frühen Buch-Publikationen („Das Wesen der modernen deutschen Lyrik“, 1910; „Vom Sinn der Liebe“, 1912) sind die Linien angelegt. Zu Tage gebracht wurden sie durch den Schock des Ersten Weltkriegs und insbesondere die Novemberrevolution. Susman entwickelte eine tiefe Skepsis gegenüber den Bildungsinhalten des Idealismus, mit denen auch sie, Tochter aus einem „deutsch“ assimilierten Haus, aufgewachsen war. Diese den „Dichtern und Denkern“ ans Herz gewachsene Tradition, so Susman, habe eine „abstrakte, weltfremde“ Innerlichkeit geboren, die zwangsläufig die „Schuld des Unpolitischen“ nach sich ziehe, weil diese Haltung die Außenwelt – nichts anderes also als die Wirklichkeit, in der wir leben – abwerte, ja letztlich als quantité negligeable betrachte, mit der sich zu beschäftigen, unter der Würde eines „Geistes“ sei, der sich zu vermeintlich Höherem berufen sehe.

Man stolpert hier förmlich über Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“, die eben jene Weltsicht, die die Welt nicht sehen möchte, zur Tugend erheben und aus der tiefsten Tiefe des Gemütes die Mysterien der Trösteinsamkeit zu Tage fördern wollten. In diesen Jahren, da Thomas Mann – damals noch ganz Kind seiner Zeit – dem „deutschen Geist“ sich verschreibt und gegen die angebliche Oberflächlichkeit der Franzosen und den in seinen Augen schnöden Pragmatismus der Engländer zu Felde zieht, entwirft Susman ihr spezifisches Konzept einer Revolution. Im Mittelpunkt steht der Begriff der Teschuwa, der „Umkehr“ nach der Einsicht in eine Verfehlung. Auf diesem Wege der Rück-Erinnerung findet sie, die bereits im Begriff war, sich für die Taufe zu entscheiden, in der jüdischen Tradition die Impulse für ein Denken, das die Suggestionen einfacher Gegensetzungen – hier Tradition, dort Moderne; hier Rückständigkeit, dort Fortschritt – weit hinter sich lässt. Der Blick zurück ist zugleich ein Blick nach vorn; die „prophetische Erinnerung“ setzt utopische Kräfte frei.

Nach einem Exkurs über „Weibliche Bewusstseinsmodi“, der darlegt, wie Susman die Frau im Zuge der Emanzipation aus einem christlichen Horizont in einen jüdischen übertreten lässt, führen die beiden letzten Kapitel (die fast die Hälfte des Buches ausmachen!), Susmans Philosophie in die Gegenwart. Ihr Revolutionsbegriff im Sinne einer „Judaisierung der Anderen“ wollte das „Gesetz“ auf eine säkular-universale Perspektive hin erweitern. Diese Utopie machte die Shoah brutal zunichte. Nach 1945 war Susman dann eine der ersten Denkerinnen, die den Zivilisationsbruch theologisch zu erfassen versuchten: „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“ erschien 1946 in Zürich. Die Publikation in der BRD erfolgte ausgerechnet 1968 – als die junge Generation sich anschickte, nach der verdrängten Vergangenheit zu fragen. Doch von solchen Überlegungen, wie Susman sie in diesem Buch formulierte, wollten die auf Kadergruppendiskussionen eingeschworenen Revolutionäre wenig wissen. Das Radikale war das Wahre – denkbar ungünstige Voraussetzungen für die Wiederentdeckung dieser Philosophin.  

Der Hiob-Bezug ihres Buches, das um eine theologische Reflexion der Shoah ringt – unter der Prämisse, das jedes Wort angesichts dessen „ein Zuwenig und ein Zuviel“ sei –, wurde immer wieder auch kritisch beleuchtet. Elisa Klapheck setzt sich differenziert mit den Facetten der Kritik auseinander – nicht ohne zu betonen, dass Susmans Arbeit in jenem Jahr ihres Erscheinens singulär dasteht. Im Anschluss skizziert sie die wichtigsten Stationen einer jüdisch(-christlich)en Debatte, zu der solche maßgeblichen Publikationen gehören wie etwa der von Michael Brocke und Herbert Jochum herausgegebene Band „Wolkensäule und Feuerschein“ (1982) oder der aufschlussreiche Querschnitt „Von Gott reden im Land der Täter“ (2001), der theologische Stimmen der dritten Generation nach der Shoah versammelt (herausgegeben von Katharina von Kellenbach u.a.).

Elisa Klapheck, die selbst das Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Dominanten jüdischer Identität erfahren und vielfach thematisiert hat, zeigt in diesen Abschnitten die größte Sensibilität, wenn sie nach möglichen Positionen fragt, über die sich das Gedenken an die „unfaßbare Gewißheit“ mit dem Bedürfnis verbinden ließe, aus dem Schatten herauszutreten und neue, positive Perspektiven zu entwerfen. Jemals wieder in Deutschland zu leben, wäre für Margarete Susman undenkbar gewesen. Sie sah 1945 das Ende des deutschen Judentums gekommen. Das Wagnis einer zögernden Hoffnung, das sie mit den letzten Sätzen ihres Hiob-Buches formuliert, spricht mit den Worten Franz Kafkas – es ist eine Stelle aus dem Tagebuch: „Aber darum wissen wir auch nicht, ob nicht diese unsere dunkle, ganz von der Erlösung abgetriebene Welt der Erlösung am nächsten ist.“

Elisa Klapheck beschließt ihr Buch mit einem Zitat aus Paul Celans Gedicht „Singbarer Rest“ – diese Zeilen waren unmittelbar an Susman gerichtet, sie erschienen, zusammen mit dem Gedicht „Vom großen Augenlosen“, in der Festschrift anlässlich ihres neunzigsten Geburtstags: „– Entmündigte Lippe, melde, / dass etwas geschieht, noch immer, / unweit von dir.“ Diese Worte hat Elisa Klapheck fortgeschrieben – mit einem Buch, aus dem die lebendige Gegenwart des Beitrags spricht, von dem es handelt. 

Elisa Klapheck
Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie
25 Abb.
Hentrich & Hentrich
2014 · 408 Seiten · 35,00 Euro
ISBN:
978-3-95565-036-0

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