Ein großer Schatz an Gedichten
Das vorliegende schöne Buch hat nicht weniger als 1404 Seiten, ist fest gebunden (mit Lesebändchen), auf gutem, dünnen Papier gedruckt und ist deshalb trotz des geradezu „revolutionären“ Umfangs von zwei Mal 1789 Gedichten so handlich geblieben, dass es in eine komfortabel ausgebeulte Jackentasche passt: Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte, zweisprachig heißt es, kundig, gelehrt und oft elegant übersetzt, ausführlich kommentiert und mit einem gründlichen und klugen Nachwort von Gunhild Kübler (die bereits 2006 eine deutlich kürzere Auswahl vorgelegt hat). Es ist ein vorbildlich produziertes Buch – das umfassendste auf dem Markt. Es ist nicht die erste zweisprachige Übersetzung der gesamten Gedichte Dickinsons – es gibt Ausgaben auf Französisch und Italienisch -, aber ganz zweifellos mit Abstand die beste und vollständigste in deutscher Sprache.
Der begierige Leser dieses großartigen Bandes (und auch bei uns schon lange und mehrfach in Auswahlbänden rezipierten Dichterin), findet in dieser Ausgabe, die der amerikanischen von H. Bruce Franklin folgt, einen großen Schatz an Gedichten, der nur langsam deutsch und englisch zu heben ist. Dabei helfen der umfangreiche und kenntnisreiche Kommentar zu Leben und Werk der einsiedlerisch lebenden Autorin, gestützt von nicht zu umfangreichen, aber hilfreichen Anmerkungen und einer kleinen Bibliografie. (Bedauerlichweise verschweigt Kübler, als wäre es selbstverständlich, die durchaus umfangreiche und exzellente deutschsprachige Dickinson-Kritik, etwa von Roland Hagenbüchle. Kein seltenes Phänomen, wo so viele bemüht sind, sich transatlantisch spurenlos anzugleichen, um danach den armen deutschsprachigen Einheimischen angeblich frisch geerntetes Manna zu bringen – oft nur nachgedroschenes Stroh aus amerikanischen Magazinen).
Immerhin nennt die Übersetzerin die wichtigsten früheren deutschen Übersetzungen, darunter die von Lola Grünthal und Gertraud Liepe, die – wie notwendigerweise jede Übersetzung – getreulich die zeitgebundene Rezeption spiegeln. Wir lernten überbetont die religiöse Seite Dickinsons kennen, die Dichterin als eine Art grauer Nonne (durch die Übersetzerin Maria Mathi in der Nachkriegszeit); bei anderen erschien sie als eine widerborstige amerikanische Inkarnation der Annette von Droste-Hülshoff. Jetzt, wie gesagt, haben wir die Dickinson ganz. Welch ein Geschenk!
Die Übersetzerin Gunhild Kübler äußert sich ausführlich und überzeugend zu ihrem Verfahren. Es zeichnet sich durch Ehrlichkeit aus: „Unmöglich, diese klangreiche, sprachlich extrem komprimierte Lyrik, die semantisch oft auf mehreren Ebenen zugleich spielt, in einer anderen Sprache treu nachzugestalten, noch dazu auf einem durch metrische Vorgaben stark eingeengtem Raum“. Dickinson verbrachte ihr Leben in Amherst / Neuengland in protestantisch-puritanischer Umgebung. Ihr waren die kirchlichen Hymnen (etwa von Isaac Watts) in kurzen, oft endreimenden vierzeiligen Strophen aus dem Gesangbuch geläufig. Sie gebrauchte den (meist unreinen) Reim als End- oder Binnenreim nach Bedarf, arbeitete öfter noch gegen die Reimerwartung des Lesers – oder sie verzichtete darauf. Ihre Zeilen werden durch Gedankenstriche punktiert und aufgeschlossen, wenig wird endgültig semantisch festgezurrt. Dickinson lässt Raum für den Lesenden, erlaubt die allmähliche Verfertigung von weiteren Gedanken beim Lesen.
Diese Gedichte – die Mehrzahl in der Not und Gewissensqual des Bürgerkrieges (1861-65) geschrieben – sind im besten Sinn Gelegenheitsgedichte: Sie ergreifen den Moment der Beobachtung, der flüchtigen Ansicht, der Gedanken-, der Sprachassoziation und flechten ihn in kleine Wortgebäude. Sie sind auch Stunden- und Tagebücher und Notate über plötzliche, oft nur halb aufgelöste Eingebungen, Gefühls- und Glaubenskatastrophen. Hier, als einziges Beispiel, ein oft zitiertes Gedicht von 1862:
I felt a Funeral, in my Brain,
and Mourners to and fro
Kept treading – treading – till it seemed
That Sense was breaking through –And when they all were seated,
A Service, like a Drum –
Kept beating – beating – beating – till I thought
My mind was going numb –And then I heard them lift a Box
And creak across my Soul
With those same Boots of Lead, again,
Then Space – began to toll,As all the Heavens were a Bell,
And Being, but an Ear,
And I, and Silence, some strange Race
Wrecked solitary, here –And then a Plank in Reason, broke,
And I dropped down, and down –
And hit a World, at every plunge,
And finished knowing – then –
In der Version von Kübler:
Durchs Hirn schritt mir ein Leichenzug,
Gefolge, kam und ging
Ein Trampeln – Trampeln – bis es schien
Es bräche ein der Sinn –Und als man saß, Getrommel,
Das war der Gottesdienst –
Und Schlag – und Schlag – schon spürte ich
Ertauben mein Gemüt –Mir schien, sie hoben eine Kiste
Mit Bleigaloschen querten
Sie knarrend meine Seele, wieder,
Der Raum – begann zu läuten,Als wären alle Himmel Glocke,
Und Dasein, nur ein Ohr,
Und Ich, und Stille, fremder Stamm
Als Strandgut, einsam, hier –Dann brach ein Balken im Verstand,
Ich stürzte ab und stieß
An immer neue Welten an,
Dann – war mit Wissen Schluss-
Das Gedicht verhandelt in seinen dramatischen, ineinander verschränkten Bildern von begrabener Hoffnung, einen Lebensschiffbruch. Es spricht von Begräbnis und Untergang, vom entsetzlichen Absturz aus der Welt (es erinnert mich in seinem romantischen Gestus an Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“). Kübler gelingt es, dies deutsch adäquat (ersetzend, verschiebend, kontrahierend, umschreibend, wo nötig) zu versprachlichen. Zwar bindet sie das Gedicht zwangsweise syntaktisch fester, doch gelingt es ihr, diesen privaten Untergang von Gefühl (und Glauben) doch an wichtigen Stellen offen zu halten (wenn auch am Ende das „then –„ sicherlich eine weitere Stufe und keinen Abschluss andeutet) Das ist eine große Leistung. Und doch braucht es den daneben stehenden englischsprachigen Text, um – zusammen mit der Übersetzung – seine Binnenreferentialität zu erkennen. Es ist in beiden Sprachen ein Gedicht, das den Leser wie ein Schlag in die Magengrube (be-)trifft.
Emily Dickinsons Gedichte können charmante, oft witzige Kommentare sein, gelegentlich kleine Rätsel-, aber auch wunderbar beobachtete Naturgedichte, sie sind persönlich, autoritativ, auch leicht oder profund. Emily Dickinson klingt gelegentlich wie eine proto-modernistische Erzdichterin und Küblers Nachdichtungen und Übersetzungen sind ihr zumeist voll angemessen.
PS. Auf dem Schutzumschlag wirbt der emsige Verlag mit dem amerikanistischen Literaturwissenschaftler Ickstadt, was als verständlich gelten kann. Eher überraschend ist die Werbung mit dem Namen der Exilamerikanerin Donna Leon. Immerhin fehlen die beifälligen Stimmen von Tatort-Kommissarinnen. Man muss auf alles gefasst, aber auch dankbar sein für Unterlassungen.
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