Literarische Evolution und politische Verwerfung
Dieses dicke Buch hat zwei Lesebändchen in unterschiedlichem Grün. Und das hat seinen Sinn, weil man damit die Orientierung in dem Gedichtteil und dem umfangreichen Apparat aus biografischen Angaben zu den Autoren und bibliografischen Angaben zu den Gedichten nicht verliert. Ich mag es sehr, wenn mich ein Verlag mit derart sinnfälligen Gaben verwöhnt, zumal das Springen zwischen beiden Teilen einen nicht unbeträchtlichen Reiz ausmacht, und man sich allerlei Gedanken zum Verhältnis von Literatur und politischer Geschichte machen kann. Letztere wird ja gerne mit dem Attribut Realgeschichte versehen. Die literarische steht ihr aber zumindest prozessual in nichts nach und ist auch an Spannung kaum zu überbieten.
Irgendwann am Beginn der neunziger Jahre, ich war gewissermaßen frisch im Westen angekommen, und hatte eine komplette Ostsozialisation im Gepäck, betrat ich in Amsterdam einen Buchladen, der Boeki Woeki hieß (im Internet habe ich zu meiner Freude feststellen können, dass er noch existiert) und der ausschließlich mit Druckerzeugnissen aus Selbst- und Kleinverlagen handelte. Darunter fanden sich erstaunlich viele deutschsprachige Publikationen. Ich kaufte damals zwei Publikationen, die einen eindeutigen Russlandbezug hatten, obwohl nach Jahren im realsozialistischen Käfig eigentlich der Westen angesagt gewesen wäre. Allerdings hatte sich mit dem Aufbrechen der Sowjetunion gezeigt, wie wenig wir in der DDR vom sogenannten Brudervolk wussten. Also kaufte ich Malewitschs Kunsttheorie in eine wundervollen Ausgabe, die unter anderem ein Reprint der Handschrift enthielt und einen Band mit Gedichten des mir damals noch unbekannten Felix Philipp Ingold. Das Besondere an dem Gedichtband war, dass die original deutschen Texte von Gennadij Ajgi ins Russische übertragen worden waren und somit, obwohl in Berlin erschienen, zum Bestandteil einer zweisprachigen Ausgabe wurden. Ich fand das außerordentlich und spannend, zumal es sich nachträglich als sinnvoll erwies, dass ich in der Schule zu erlernen der russischen Sprache gezwungen worden war. Eine kleine Entschädigung also für sieben Jahre schulische Qual.
Eben jener Felix Philipp Ingold legt nun im Dörlemann Verlag die Anthologie „Als Gruß zu lesen“ Russische Lyrik von 2000 bis 1800 vor, die von ihm ins Deutsche übertragen wurde, und natürlich ist auch ein Gedicht von Ajgi dabei.
Wir sollten Ingold dankbar sein, denn wenn konservativ bewahrend heißt, dann ist diese Anthologie im Wortsinne konservativ, und sie bewahrt das, was an der russischen Lyrik einmal revolutionär war, oder zumindest eine Ahnung von dem, was im Grunde an ihr noch revolutionär ist, und das war oder ist eben nicht die gereimte Feier der Arbeiterklasse und ihres als Oktoberrevolution bezeichneten Aufstandes, der ja wesentlich nur ein Putsch von sich selbst zur politische Avantgarde erklärenden Bolschewiki gewesen ist.
Mit dem Ende der Sowjetunion erwies sich der Kommunismus als historische Episode und auch als Machtinstrument der für diese Zeit weltweit größten Kolonialmacht, die als Heimat der Arbeiterklasse bezeichnet werden wollte. Diese kurze thesenhaft politische und historische Erwägung, sei mir an dieser Stelle gestattet, weil sich gewissermaßen parallel zu einem politisch und ökonomischen Umbruch, ein dichterischer und ästhetischer Aufbruchs vollzog, begleitet von einem Aufbegehren in der Sprach und Dichtungstheorie.
Und wenn die sowjetrussische Politik ihr Ende gefunden hat, gilt es diese ästhetische Bewegung eben zu bewahren und am Leben zu erhalten. Der Zusammenhang der beiden Ereignisse wurde nämlich gerade in der östlichen Hemisphäre aber auch unter linken Theoretikern im Westen beschworen, ohne jedoch den inneren Verwerfungen und Bezüglichkeiten auf den Grund zu gehen.
Die frisch gekürte Bachmannpreisträgerin Olga Martynova sagte kürzlich in einem Interview, dass Held und Dichter zwei vollkommen verschiedene Berufe seien und sie hat damit wohl recht, wenn man einmal davon absieht, dass eine ganze Reihe der in dieser Anthologie vertretenen Dichter die dreißiger und vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht überlebt haben, eben weil sie sich dichterisch artikulierten und nicht als Helden der Arbeiterklasse. Sie starben entweder in den Lagern Stalins oder auf der Flucht vor den vorrückenden deutschen Truppen im zweiten Weltkrieg, oder sie Verhungerten im eingeschlossenen und blockierten Leningrad. In diesem Sinne wäre vielleicht eben jener ein Held, der für sich selbst den Anspruch auf Heldentum verweigert. Auf diese Weise fand eine unvergleichliche Welle dichterischer Innovation, die um Neunzehnhundertzehn herum zu branden begonnen hatte ein barbarisches Ende.
Ein gutes Beispiel für die oben erwähnte Verweigerungshaltung ist Roman Jakobson, der sein Leben dadurch erhalten hatte, dass er zunächst in die Tschechoslowakei und später dann nach Amerika floh. Jakobsons Text „Anmerkungen zu den Wegen der russischen Poesie“ dient dem Band unter dem Titel „Anstelle eines Nachwortes“ als Nachwort. Hier wird ein kurzer, sehr lesenswerter Aufriss über die Geschichte und die Besonderheiten der russischen Poesie gegeben, die im Gegensatz zur westlichen an Formen wie beispielsweise dem Reim festhält. Nicht dogmatisch und nicht unbedingt, aber in einem weit größeren Maße als die deutschsprachige Dichtung.
Und wenn eingangs die Zeit zwischen 1910 und 1940 als Epoche eines lang nachwirkenden ästhetischen Umbruchs beschrieben wird, führt Jakobson die Puschkinzeit als eine ebensolche an, die aber weit weniger russische Spezifik aufweist. „Wie originell die Werke der Puschkinschen Pleiade auch gewesen sein mögen, man kann dazu in der ausländischen Verskunst leichter Analogien finden, als in den beispiellosen sprachlichen Entdeckungen eines Chlebnikow, eines Majakowski und deren Zeitgenossen.“
Im Grund sollte man über Roman Jakobson nicht viele Worte verlieren müssen, handelt es sich bei ihm doch um einen der originellsten Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts. Sein Name ist wohl mit den theoretischen Versuchen des Strukturalismus untrennbar verbunden. Bislang gilt allerdings der Strukturalismus als eine französische Erfindung, und sie war es wohl auch, wenn man als zentrale Gründungsfigur den französischen Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure gelten lässt. Jedoch bildete sich fast parallel zur französischen Variante in Russland um die Dichter des Futurismus herum die Formale Schule, in deren Zentrum Theoretiker wie Schklowski, Tynjanow, Eichenbaum oder eben auch Jakobson standen. Schier atemlos verfolgt man diese Entwicklung wenn man in den Gesprächen liest, die Krystina Pomorska mit Jakobson führte und die unter dem vielsagenden Titel „Poesie und Grammatik“ erhältlich sind.
Es ging der Gruppe der Russischen Formalisten im Grunde darum, die Literatur und letztlich auch die Sprache dem vulgären Psychologismus zu entreißen, unter dessen Zugriff sie letztlich auch heute noch zu leiden hat. Im Zentrum der formalistischen Auffassung von Literatur standen eben nicht mehr oder weniger geniale Poetinnen und Poeten aus deren Abfolge sich die Literaturgeschichte ergibt, sondern der Literatur selbst inhärente Gesetzmäßigkeiten, die zu so etwas wie einer literarischen Evolution führen.
„Die statisch isolierte Betrachtung öffnet keinesfalls den Weg zur literarischen Persönlichkeit des Autors und verdrängt nur ungerechter Weise den Begriff der literarischen Evolution und der literarischen Genesis zu Gunsten der psychologischen Genesis.“ schreibt Tynjanow 1929. Dieser Ansatz führt natürlich auch zu einer Entideologisierung der Literaturgeschichte, etwas also, was von den genievernarrten kommunistischen Oberen im Osten nicht gern gesehen wurde. Formalismus war denn auch ein Vorwurf, der zur Einschränkung der Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten bis hin zu Haft und Ermordung führen konnte.
Der Gedanke einer literarischen Evolution scheint mir auch einer der grundlegenden dieser Anthologie. Es handelt sich also zum Glück nicht eben um die achtzigste Blütenlese oder um ein Best-of der russischen Lyrik, sondern stellt diese als ein sich entwickelndes, sich ausdifferenzierendes lebendiges Gefüge dar. Und auch deren Geschichte hat unter diesem Gesichtspunkt alle Statik verloren. Deshalb scheint es mir auch folgerichtig, dass in der Präsentation der Texte, die Chronologie umgekehrt wurde. Ich schlage dem Leser demnach auch vor, sich an die vorgeschlagene Reihenfolge im Buch zu halten. Man beginnt also in der unserer Zeit am nächsten gelegenen Textkonstruktionen, zum Bespiel denen Prigovs oder anderen Dichterinnen und Dichtern des Informell, und begibt sich auf eine Abenteuerreise ins Vergangene, das einem zuweilen sehr Präsentsisch erscheint. Und natürlich sind nicht alle Texte von gleichermaßen hoher Qualität. Zuweilen geht es sehr holprig zu auf dem Weg rückwärts durch die Zeit. Umso mehr wird man Entschädigt wenn man auf die Texte der Leuchttürme der russischen Dichtkunst trifft, und Namen wie Achmatowa, Chlebnikow und Charms sind hier nur Beispiele. Mir gelang es auf diesem Wege auch die eine oder andere persönliche Entdeckung zu machen. Waginow zum Beispiel sticht für mich heraus. Obwohl er Mitglied der Petersburger Gruppe der Oberiuten war, hatte ich ihn bislang noch nicht wirklich wahrgenommen. Das Gedicht „Gassencafé“ mit dem er im Band vertreten ist, hatte etwas sehr Expressionistisches, wie ich es von der russischen Lyrik so noch nicht kannte. Ich bestellte mir daraufhin, was ich auf Deutsch von ihm bekommen konnte, und lese wie besessen darin. Es ist mehrheitlich Prosa, aber das tut dem Genuss keinen Abbruch, allerdings hat sich das Expressionistische vollkommen verloren.
Wenn ich durch diese Anthologie etwas gelernt habe, dann ist es, dass am Grunde der russischen Literatur noch eine große Anzahl hierzulande unentdeckter lyrischer Schätze liegen, die es noch zu heben gilt, und dass das ein lohnenswertes Unternehmen wäre.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben